nd-aktuell.de / 04.09.2020 / Kultur / Seite 12

Laues Windchen

Warum es falsch ist, von einem »Sturm auf den Reichstag« zu sprechen

Robert D. Meyer

Spätestens Mitte der 2000er Jahre hatte die extreme Rechte in Deutschland kapiert, dass sie mit provokanten Aktionen einerseits Öffentlichkeitswirksamkeit schafft und gleichzeitig nach innen ein starkes Gefühl der Zusammengehörigkeit schafft. Die völkischen Identitären waren nicht die ersten, wohl aber das bekannteste rechtsextreme Beispiel dafür, wie eine politisch kleine Gruppierung die Macht der Bilder für sich nutzt.

Wer diesen Gedanken im Hinterkopf hat, versteht auch, was der Sinn und Zweck dahinter war, als vergangenen Samstag einige hundert Rechtsextreme und Reichsbürger die offensichtlich überforderte Polizei überraschte und sich Zugang zur Treppe des Reichstagsgebäudes verschaffte. Bewusst ist an dieser Stelle nicht von einem »Sturm« oder einer »Erstürmung« die Rede, wie es in den Tagen danach vielfach hieß. »Nach der ›Querdenken‹-Demo in Berlin übernahmen große Teile der Medien unkritisch das Framing der Rechtsextremen: Der Reichstag sei ›gestürmt‹ worden«, kritisiert Nicholas Potter in einem Beitrag für belltower.news.

Beim »Sturm auf den Reichstag« handelt es sich um ein Wunschdenken, dass in der extremen Rechten und unter Reichsbürgernseit jeher propagiert wird. Dass Rechte die Kraft diese Bildes lieben, sei verständlich, so Potter, zumal die Szene bisher nicht in der Lage ist, die Idee umzusetzen. »Eine Übernahme dieses Narratives in den Medien hilft der rechtsextremen Szene, aus einem Treppenwitz einen symbolischen Akt mit propagandistischem Potenzial zu konstruieren.«

Ein Treppenwitz, der wohlgemerkt schon länger vorbereitet wurde. »Das war eine Aktion mit Ansage«, erklärt der Matthias Quent auf vorwaerts.de. Der Experte für Rechtsextremismus führt in dem Interview aus, dass die Beteiligten schlicht die Situation genutzt haben, um eine Aktion umzusetzen, zu der seit Jahren in rechten Gruppen und Foren aufgerufen wird. »Im Internet wird schon länger über den Sturz der Regierung und über das, was nach dem ›Tag X‹ kommt, sinniert. Die Bilder vom Samstag geben diesen Bestrebungen Rückenwind, weil sie zeigen, dass man ›das System‹ besiegen kann.« Man musste in den Tagen vor der Großdemonstration der Coronaverhamloser schon blind sein, um nicht zu erahnen, dass in Berlin etwas passieren würde, das über eine einfache Demonstration hinausgehen würde. Auf Twitter wurde unter dem Hashtag SturmAufBerlin in die Hauptstadt mobilisiert, eine gewiss keinesfalls zufällige Referenz zum »Marsch auf Berlin«, auch bekannt als der erfolglose Hitlerputsch im Jahr 1923. Auch damals ging es darum, die Regierung in Berlin zu stürzen.

Und weil der propagandistische Erfolg für die extreme Rechte nicht schon groß genug ist, drehten einige Medien die Zuspitzung dieses nüchtern betrachtet lauen Windchens noch ein gutes Stück weiter. Ganz vorne mit dabei wenig überraschend der Boulevard. »Helden-Polizisten wehrten bis zu 400 Chaoten ab!«, schlagzeilte Bild.de. Was in diesem Kontext wie das letzte Aufgebot der wehrhaften Demokratie gegen einen Reichsfahnen schwenkenden Mob klingt, ist in Wahrheit das Ergebnis einer schweren Fehleinschätzung der Polizeieinsatzplanung.

»Am Montag lasen sich die zugespitzten Schlagzeilen, als stünden tatsächlich nur drei schlagstockschwenkende Polizisten zwischen der freiheitlich-demokratischen Grundordnung und dem vierten Reich«, so Potter. Das ist natürlich maßlos übertrieben, denn es ist nicht einmal klar, ob die Rechtsextremen sich überhaupt Zutritt zum Gebäude verschaffen hätten können. Selbst in diesem unwahrscheinlichen Fall bleibt die Frage: Und dann? Hätte sich vor Erschrecken das Grundgesetz in Luft aufgelöst? Hätte sich der Bundestag aufgelöst und die Regierung Merkel völlig perplex abgedankt? Wohl kaum. Nein. Niemals

Die Realität ist seit der Bundestagswahl 2017 auch schon so für jeden Demokraten nur schwer zu ertragen. Potter bemerkt treffend: »Die bittere Ironie ist, dass, mit dem Einzug der AfD in den Bundestag, Rechtsradikale es sowie schon längst in das Reichstagsgebäude geschafft haben.«