Anders Wohnen in Kreuzberg

Die »Kieztour mit Herz« stellt alternative Wohnformen und deren Geschichten vor

  • Georg Sturm
  • Lesedauer: 3 Min.

»Seit 2005 gibt es in Berlin keinen Mieter-, sondern einen Vermietermarkt«, sagt Jens Heimendahl auf dem Oranienplatz zu Beginn seiner Stadtführung am Samstagvormittag. Nachdem der rot-rote Senat seinerzeit große Teile der kommunalen Wohnungsgesellschaften verkauft habe, werden in Berlin vermehrt Profite mit dem Grundrecht auf Wohnen erzielt, so Heimendahl. Wie Wohnen gemeinschaftlich und sozial organisiert werden kann, zeigt der Stadtführer den etwa zwanzig Interessierten während seiner Kieztour »Anders wohnen« am Beispiel verschiedener alternativer Wohnungsprojekte in Kreuzberg.

Die »Kieztouren mit Herz« werden seit 2016 vom Katholischen Deutschen Frauenbund, dem Erzbistum Berlin und dem Berliner Caritasverband organisiert. »Wir möchten dadurch soziale Themen in der Stadt aufgreifen und durch Stadtspaziergänge erfahrbar machen«, erklärt Michael Haas-Busch von der Berliner Caritas. Im Vorjahr hatte die Kieztour-Reihe Wohnungslosigkeit zum Thema. In diesem Jahr drehen sich die Stadtspaziergänge um alternative Formen des Wohnens zur Miete und werden in Kooperation mit dem Institut für Nachhaltigkeit durchgeführt.

Einer der alternativen Wohnorte ist die Bauwagensiedlung Kreuzdorf am Mariannenplatz. In der Siedlung lebten Anarchisten, Linke und Hippies, die »kein Treppenhaus mehr sehen wollen und das Leben in einer Bauwagensiedlung bevorzugen«, erläutert Heimendahl. Direkt daneben befindet sich das Georg-von-Rauch-Haus, ein im Dezember 1971 besetztes ehemaliges Schwesternwohnheim des benachbarten Bethanien-Krankenhauses. »This is not a tourist attraction«, prangt in schwarzer Schrift auf der Backsteinfassade des Hauses, das nach dem Berliner Stadtguerillero Georg von Rauch benannt wurde und vom Trägerverein »Georg von Rauch-Haus Jugend- und Kulturzentrum Kreuzberg e.V.« verwaltet wird. Bis heute leben in dem Selbsthilfeprojekt für Jugendliche mit sozial schwierigem Hintergrund vierzig bis fünfzig Menschen.

Ein ebenso nichtkommerzielles und demokratisches Nachbarschafts-, Wohn- und Kulturprojekt ist das »Teepeeland«. Das offene Zeltdorf, das vom Bezirk Friedrichshain-Kreuzberg geduldet wird, ist das letzte besetzte Grundstück am Kreuzberger Spreeufer. Dort, wo in den Jahren nach der Wende zahlreiche neue Bürogebäude, Lofts, Hotels und Veranstaltungsorte entstanden sind, stehen eine Handvoll Tipis, Zelte und Hütten auf einer der wenigen übrig gebliebenen Brachflächen. »Hier finden regelmäßig Konzerte oder Filmvorführungen statt«, erzählt Heimendahl. Wie lange das Zeltdorf dort noch stehen könne, sei nicht sicher, da der Senat den Bau eines Uferwegs an der Spree plane. Direkt daneben befindet sich das Grundstück der Wohn- und Baugenossenschaft Spreefeld. Der »Spreeacker« umfasst 60 Apartments sowie verschiedene kulturelle, soziale und gewerbliche Einrichtungen. Neben dem öffentlichen Zugang zur Spree gibt es Raum für gemeinschaftliche Initiativen wie Nachbarschaftsgärten oder kulturelle Projekte. »Wir haben die Genossenschaft mit dem Ziel gegründet, sozial und ökologisch wohnen und arbeiten zu können«, erklärt Michael LaFond, Gründer des »Instituts für kreative Nachhaltigkeit«. Die rund 140 Bewohner*innen der drei Passivhäuser der Genossenschaft beziehen ihren Strom aus Solaranlagen, Geothermie und einem Blockheizkraftwerk.

Von einer Dachterrasse eines der Sichtbetonhäuser fällt der Blick auf das gegenüberliegende Holzmarkt-Gelände. Dieses sei eines der »Objekte der Begierde« am Spreeufer gewesen, eine der am heißest umkämpften Bauflächen Berlins, erklärt Heimendahl. Das Holzmarkt-Areal wurde im Oktober 2012 von der Schweizer Stiftung Abendrot in einem Bieterverfahren erworben und teilweise der »Genossenschaft für urbane Kreativität« in Erbpacht zur Verfügung gestellt.

Der Holzmarkt sei ebenso wie der »Spreeacker« eines der alternativen urbanen Projekte, die sich zum Ziel setzten, Teilhabe, Nachhaltigkeit sowie soziale Verträglichkeit zu vereinen, sagt Heimendahl. Und davon - das wird im Verlauf der fast dreistündigen Stadtführung deutlich - gibt es in Kreuzberg eine ganze Menge.

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