Tausende Flüchtlinge auf Lesbos ohne Unterkunft und Essen

Fähre soll Familien aus Lager Moria aufnehmen / Widerstand der einheimischen Bevölkerung und der Behörden vor Ort gegen neue Zelte

  • Lesedauer: 5 Min.

Lesbos. Nach der Brandkatastrophe im Flüchtlingslager Moria sind auf der Insel Lesbos noch tausende Menschen ohne Unterkunft und Nahrung auf sich gestellt. Verzweifelte Familien, oft mit kleinen Kindern, irrten nach einer zweiten Nacht im Freien über die Insel, wie AFP-Reporter berichteten. »Man hat uns im Stich gelassen, ohne Essen, Wasser oder Arzneimittel«, sagte Fatma aus Syrien, ihr zweijähriges Kind im Arm. Die griechischen Behörden suchten derweil hektisch nach Lösungen zur Unterbringung der Menschen.

Griechenland wollte noch am Donnerstag - vorerst Familien und besonders bedürftigen Menschen - eine neue Unterkunft beschaffen. Eine Fähre mit Platz für hunderte Menschen wurde zur Insel Lesbos entsandt, wie das Migrationsministerium in Athen mitteilte. Zwei griechische Marine-Schiffe sollen demnach zusätzliche Schlafmöglichkeiten bieten.

Auch drei Flugzeuge wurden den Angaben zufolge nach Lesbos geschickt, um 406 unbegleitete Minderjährige aufs Festland nach Nordgriechenland zu bringen. Sie wurden zuvor auf das neuartige Corona-Virus getestet. Die EU hatte zuvor angeboten, diese Unterbringung zu finanzieren. Zudem soll nach Angaben der Regierung in Athen an Sammelpunkten auf Lesbos Essen für die Flüchtlinge ausgegeben werden - zusammen mit Hilfsorganisationen.

EU-Vize-Kommissionspräsident Margaritis Schinas wurde am Donnerstag auf Lesbos erwartet. Dort war das völlig überfüllte und schon seit Jahren als unmenschlich kritisierte Flüchtlingslager Moria am Dienstagabend durch einen Großbrand in weiten Teilen zerstört worden.

Durch ein zweites Feuer am Mittwochabend verbrannte dann der verbleibende Teil des Lagers fast vollständig, wie das Ministerium mitteilte. Ernsthaft verletzt wurde durch die Brände niemand, fast 13.000 Menschen wurden aber obdachlos und mussten auf der Straße oder in Olivenhainen schlafen.

Überlegungen, übergangsweise neue Zelte auf Lesbos für die Flüchtlinge aufzustellen, stießen auf Widerstand der einheimischen Bevölkerung und der Behörden vor Ort. »Wir haben Schwierigkeiten, Zelte für die Unterbringung dieser Menschen aufzustellen«, räumte Giorgos Koumoutsakos vom Migrationsministerium im Sender SKAI TV ein.

Die Bevölkerung von Lesbos mit seinen 85.000 Einwohnern, die anfangs die vielen Flüchtlinge freundlich aufgenommen und ihnen geholfen hatten, hat über die Jahre eine zunehmend ablehnende Haltung entwickelt. Nach Ausbruch der Brände im Lager Moria hatten manche Griechen sogar die Zugänge zu naheliegenden Orten für Flüchtlinge blockiert.

Erste Maßnahmen waren zuvor angelaufen

Die ersten Maßnahmen zur Unterbringung von Menschen nach dem Großbrand im Migrantenlager von Moria waren vorher angelaufen. 165 unbegleitete Minderjährige wurden an Bord eines Flugzeugs von Lesbos zur griechischen Hafenstadt Thessaloniki gebracht. Weitere 240 Minderjährige sollten noch am Donnerstag folgen, berichtete der staatliche Rundfunk (ERT).

Die Feuerwehr konnte in der Nacht zum Donnerstag mehrere kleinere neue Brände löschen. Die Feuer hätten übrig gebliebene unbeschädigte Zelte und andere provisorische Unterkünfte von Moria zerstört, berichtete das Staatsfernsehen.

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Tausende Menschen verbrachten die erste Nacht nach dem Großbrand auf den Straßen rund um das Lager Moria. Die Polizei stoppte unter Einsatz von Tränengas einige jugendliche Migranten, die versuchten, in die Hauptstadt der Insel zu kommen, wie das Staatsfernsehen berichtete.

Eine Fähre, die »Blue Star Chios«, wurde am Donnerstagvormittag in einem Hafen im Westen der Insel erwartet. Dieses Schiff soll rund 1000 Migranten aufnehmen. Andere Migranten sollen in den nächsten Tagen von zwei Schiffen der griechischen Kriegsmarine aufgenommen werden.

Nach wie vor gibt es keine offiziellen Angaben zur genauen Anzahl der Menschen, die durch den Brand obdachlos geworden sind. Zuletzt lebten in und um das Camp von Moria rund 12 500 Menschen.

In Berlin forderten am Mittwochabend rund 10.000 Menschen die Aufnahme der Flüchtlinge aus Moria, wie die Organisation Seebrücke mitteilte. Auch in anderen deutschen Städten gab es solche Demonstrationen. In Köln nahmen nach Angaben der Organisatoren etwa 3000 Menschen daran teil, in Hamburg 2500. Die Seebrücke hatte bundesweit zu spontanen Protesten und Kundgebungen aufgerufen.

Die Bewohner von Moria, die ihr letztes Dach über dem Kopf verloren hätten, »müssen sofort aufgenommen werden«, forderte Julia Solbach von der Seebrücke. »Eine europäische Lösung ist nicht in Sicht, das heißt, einzelne Staaten müssen vorangehen.«

EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hatte zuvor erklärt, die EU und ihre Mitgliedstaaten seien zur Hilfe bereit. Innenkommissarin Ylva Johansson teilte mit, sie habe die Finanzierung der sofortigen Verlegung und Unterbringung der 400 noch verbliebenen unbegleiteten Minderjährigen aus Lesbos auf das griechische Festland genehmigt. Zudem will die EU demnach ein großes Schiff für Schwangere und Kinder zu der Insel nach Lesbos schicken.

Die Regierung in Athen stimmte der Verlegung der 400 Minderjährigen zu. Ansonsten verbot sie aber den Lagerbewohnern vorerst, die Insel zu verlassen, wie die griechische Nachrichtenagentur ANA meldete.

Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD) sprach von einer »humanitären Katastrophe« und forderte die Verteilung der Betroffenen auf aufnahmewillige Staaten in der EU. Mehrere Bundesländer erklärten sich zur Aufnahme bereit, das von Horst Seehofer (CSU) geführte Bundesinnenministerium wies solche Vorstöße jedoch erneut zurück. Das Bundesinnenministerium muss Aufnahmeprogrammen der Bundesländer zustimmen, es besteht auf einer europäischen Verteilung.

SPD-Vizechefin Serpil Midyatli übte scharfe Kritik an Seehofers »Blockadehaltung« angesichts der Lage auf Lesbos. Für die Betroffenen sei das Vorgehen des Ministers »lebensgefährlich«, sagte sie dem Redaktionsnetzwerk Deutschland (Donnerstagsausgaben). Deutschland habe den Platz für die Aufnahme von Flüchtlingen, betonte sie.

Bundesentwicklungsminister Gerd Müller (CSU) plädierte für die Aufnahme von 2000 Flüchtlingen aus Moria in Deutschland. Innerhalb der EU müsse Deutschland in einer »Koalition der Willigen« vorangehen, sagte Müller im ARD-Fernsehen. Agenturen/nd

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