Der bayerische Salvini

DIE STIMME DER VERNUNFT über den Willen der SPD, Seehofer unbedingt an der Macht zu halten

Der Minister Seehofer, dem angesichts eines niedergebrannten Geflüchtetencamps nichts anderes einfällt als ein »Weiter so«, der sich selbst zum Geburtstag eine runde Zahl an Abschiebungen schenkt und sich noch letztes Jahr verbat, den ungarischen Diktator Viktor Orbán »als Demokraten infrage zu stellen«, ist ein SPD-Minister.

Natürlich, er ist es nicht dem Parteibuch nach. Doch ist er Mitglied einer SPD-Regierung; seine Existenz in diesem Kabinett wäre nicht möglich, wenn sie nicht von SPD-Verantwortlichen gewollt und mitgetragen würde. Es ist daher sinnvoll, ihn als SPD-Minister zu bezeichnen, auch deshalb, weil im Fall des Lagers Moria die SPD gerade wieder einmal sehr stark den Eindruck erzeugen möchte, nicht zur Regierung zu gehören. Rührende Fotogeschichten, die Saskia Esken und Lars Klingbeil symbolische Solidarität mit Moria attestieren, können nicht darüber hinwegtäuschen: Seehofer handelt so, weil man ihn lässt, weil die SPD ihn lässt, weil die SPD das ungeheure menschliche Leid, dass dieser furchtbare Mann über Europa bringt, letztlich für das geringere Übel hält. Man fragt sich, was das größere Übel wäre, jedenfalls größer als das Übel, nicht mehr mitregieren zu dürfen. Der bayerische Salvini handelt jedenfalls nicht sehr viel anders, als es ein AfD-Heimatminister tun würde; es gibt innerhalb der Grenzen der Rechtsstaatlichkeit eigentlich keine Möglichkeit, noch extremer zu agieren.

In jedem Kompromiss steckt ein Handel, man kriegt etwas zurück. Die SPD kriegt aus dem Willen, Seehofer um jeden Preis an der Macht zu halten, an einigen Stellen ein paar Prozentpunkte bei den Renten, dann ein wenig mehr Lohn für die, die noch Arbeit haben (denn an Hartz IV wird halt nicht einmal symbolisch gerüttelt). Sie kriegt eine zusätzliche Staatssekretärin in einem Ressort, das gerade nicht so wichtig ist, und kann eventuell in einigen Gemeinden verhindern, dass die Schwimmbäder dieses Jahr geschlossen werden, damit sie erst nächstes Jahr geschlossen werden.

Ab wann ist der Preis fürs Unbedingtregieren zu hoch? Ab wann nimmt man routinemäßig Verbrechen gegen die Menschlichkeit in Kauf? Denn Moria ist ja keine Ausnahme, kein Unfall - vielmehr ein Testballon. Das nächste Moria ist bereits in Planung. Die mörderischen Zustände in diesem und allen kommenden Lagern sind gewollt, sind Teil eines eiskalt kalkulierten und genauso durchgesetzten Abschreckungskonzepts, ebenso wie die militarisierte Grenzpolizei, ebenso wie die kriminalisierte Seenotrettung. Ein Abschreckungskonzept, dass die extreme Rechte in Europa den konservativen Regierungen buchstäblich so diktiert hat. Mit den Sozialdemokraten als Schreibunterlage.

Um den Frieden mit Seehofer nicht zu gefährden, hat die SPD alles verhindert, was selbst eine symbolische Linderung des Leids in den Lagern bedeuten würde. Eine Handvoll Kinder retten - bereits ein zu hoher Preis für das Recht von Olaf Scholz, zu ausgewählten Anlässen als Vizekanzler vom Balkon zu winken. Das Ansinnen einiger SPD-Kommunen, auf eigene Faust Geflüchtete aufzunehmen, hat der SPD-Minister Seehofer per Dekret unterbunden.

Was genau muss die CDU/CSU eigentlich anstellen, damit die SPD die Koalition verlässt? Einen Angriffskrieg gegen Dänemark beginnen? Ein eigenes Atomwaffenprogramm entwickeln? Die Kinderarbeit legalisieren? Obdachlose auf dem Marktplatz auspeitschen? Die Stimme der Vernunft fragt: Wäre gegen eine Partei, die Verbrecher gegen die Menschlichkeit an der Macht hält, nicht längst ein Verbotsverfahren einzuleiten?

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