Virale Ungleichheit?

Armut und Reichtum im Zeichen von Corona

  • Christoph Butterwegge
  • Lesedauer: 4 Min.

Um entscheiden zu können, ob die Covid-19-Pandemie in Deutschland sozial egalisierend, verteilungspolitisch indifferent oder eher polarisierend gewirkt hat, muss man ihre Effekte auf drei Ebenen analysieren: Erstens ist nach den unmittelbaren Auswirkungen der Pandemie selbst und nach den Infektionsrisiken einzelner Personengruppen (Unterschiede zwischen Finanzschwachen und -starken) zu fragen. Zweitens muss die von der Pandemie selbst und von dem bundesweiten Lockdown (weitgehender Stillstand des öffentlichen Lebens) ausgelöste, sich aber schon vorher deutlich abzeichnende Krise der Ökonomie berücksichtigt werden. Und drittens geht es um die zum Schutz der Bevölkerung, zur Gefahrenabwehr und zur Stabilisierung der Wirtschaft ergriffenen Maßnahmen des Staates.

Bezüglich der Infektiosität eines Virus sind alle Menschen vor ihm gleich, im Hinblick auf das Infektionsrisiko allerdings nicht. So traf die Covid-19-Pandemie alle Bewohner/innen der Bundesrepublik, aber keineswegs alle gleichermaßen. Je nach Arbeitsbedingungen, Wohnverhältnissen und Gesundheitszustand waren sie vielmehr ganz unterschiedlich betroffen. Während der Coronapandemie galt: Wer arm ist, muss eher sterben. Denn das Infektionsrisiko von Armen war deutlich höher als das von Reichen.

Sozial bedingte Vorerkrankungen wie Adipositas (Fettleibigkeit), Asthma, Diabetes mellitus (Zuckerkrankheit), Rheuma oder COPD (Raucherlunge), katastrophale Arbeitsbedingungen (z. B. in der Fleischindustrie) sowie beengte und hygienisch bedenkliche Wohnverhältnisse erhöhen das Risiko für eine Infektion mit Sars-CoV-2 bzw. für einen schweren Covid-19-Krankheitsverlauf. Hauptleidtragende, weil einkommens- und immunschwach, waren Obdach- und Wohnungslose, aber auch andere Bewohner/innen von Gemeinschaftsunterkünften wie Gefangene, Geflüchtete, (süd-)osteuropäische Werkvertragsarbeiter/innen der Subunternehmen deutscher Großschlachtereien bzw. Fleischfabriken und nichtdeutsche Saisonarbeiter/innen, Migrant(inn)en ohne gesicherten Aufenthaltsstatus, Menschen mit Behinderungen, Pflegebedürftige, Suchtkranke, Prostituierte, Erwerbslose, Geringverdiener/innen und Kleinstrentner/innen.

Die pandemische Ausnahmesituation hat das Phänomen der Ungleichheit als Kardinalproblem der Bundesrepublik wie unter einem Brennglas sichtbar gemacht, aber auch verschärft. Wie nie zuvor nach dem Zweiten Weltkrieg wurde erkennbar, dass trotz eines verhältnismäßig hohen Lebens- und Sozialstandards im Weltmaßstab sowie entgegen allen Beteuerungen, die Bundesrepublik sei eine klassenlose Gesellschaft mit gesicherter Wohlständigkeit all ihrer Mitglieder, ein großer Teil der Bevölkerung nicht einmal für kurze Zeit ohne seine Regeleinkünfte auskommt.

Kontaktverbote, Ausgangsbeschränkungen und Einrichtungsschließungen zerstörten die ohnehin brüchige Lebensgrundlage vieler Bettler/innen, Pfandsammler/innen und Verkäufer/innen von Straßenzeitungen, weil fehlende Passant(inn)en und die Furcht der verbliebenen vor einer Infektion teilweise zum Totalausfall der Einnahmen führten. Die finanzielle Belastung von Transferleistungsbezieher(inne)n, Kleinstrentner(inne)n und Geflüchteten nahm durch die Schließung der meisten Lebensmitteltafeln zu. Aufenthaltsbeschränkungen und Abstandsregelungen förderten tendenziell die Vereinsamung und die soziale Isolation, von der Arme, Alte und Menschen in beengten Wohnverhältnissen am stärksten bedroht sind. Viele kleine Einzelhändler/innen und Soloselbstständige haben wegen der Schließung ihrer Läden oder fehlender Aufträge und Auftritte ihre Existenzgrundlage verloren.

Bund, Länder und Gemeinden haben in der Coronakrise nach kurzem Zögern fast über Nacht mehr als eine Billion Euro für direkte Finanzhilfen, Bürgschaften und Kredite mobilisiert. Letztere kamen in erster Linie großen Unternehmen zugute, während kleine und mittlere Unternehmen mit einmaligen Zuschüssen unterstützt wurden, die laufende Betriebskosten decken, aber nicht zur Bestreitung des Lebensunterhalts verwendet werden durften. Während zahlreiche Unternehmen, darunter auch solche mit einer robusten Kapitalausstattung, von der Bereitschaft des Staates zu einer hohen Neuverschuldung (Abschied von der schwarzen Null und den Restriktionen der Schuldenbremse) profitierten, mussten sich die Finanzschwachen mit den ungenügenden Fördermaßnahmen für die Wirtschaft bescheiden.

Selbst die beiden Sozialschutz-Pakete der CDU/CSU/SPD-Koalition wiesen eine verteilungspolitische Schieflage auf. Auch im Konjunktur- und Krisenbewältigungspaket wurden die am härtesten von der Pandemie betroffenen Personengruppen nur ganz am Rande bedacht. Wenn die Bundesregierung einem Vergabeprinzip folgte, war es die »Leistungsgerechtigkeit«, bei der es um den ökonomischen Erfolg einer Personengruppe geht, die Hilfe braucht: Gewinneinbußen rentabler Unternehmen durch den Ausbruch der Covid-19-Pandemie wollte die Große Koalition mittels finanzieller Soforthilfen ausgleichen, und auch Lohn- bzw. Gehaltseinbußen sozialversicherungspflichtig Beschäftigter sollten mittels Kurzarbeitergeld abgemildert werden. Transferleistungsempfänger/innen hatten durch den Lockdown hingegen scheinbar nichts verloren und daher auch wenig zu erwarten.

Von einem »Ungleichheitsvirus« (Colin Gordon) kann so wenig die Rede sein wie von einem sozialen Gleichmacher. Denn weder hat Sars-CoV-2 die Kluft zwischen Arm und Reich verursacht, noch war das Coronavirus für die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen verantwortlich, auf die es traf. Unter ihnen ließ Covid-19 die bestehenden Interessengegensätze nur deutlicher hervortreten, während der Lockdown und die staatlichen Rettungspakete sie zuspitzten. Nicht das Coronavirus ist unsozial, sondern eine reiche Gesellschaft, die ihre armen Mitglieder zu wenig vor einer Infektion und den wirtschaftlichen Verwerfungen der Pandemie schützt.

Prof. Dr. Christoph Butterwegge hat von 1998 bis 2016 Politikwissenschaft an der Universität zu Köln gelehrt. Soeben ist bei PapyRossa sein Buch Ungleichheit in der Klassengesellschaft (183 Seiten, Ladenverkaufspreis 14,90 Euro) erschienen.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal