Geschwind voran, ohne Atempause!

Beethoven on fire und LSD in Zeitlupe: Zwei inspirierende Abende beim Musikfest Berlin

  • Berthold Seliger
  • Lesedauer: 6 Min.

Brauchen wir wirklich noch mehr Beethoven? Haben wir nicht längst genug von ihm gehört, ganz besonders in diesem Jubiläumsjahr? Und muss es ausgerechnet die rauf- und runtergespielte Fünfte sein? »So klopft das Schicksal an die Pforten« beziehungsweise »per aspera ad astra«, durchs Dunkel zum Licht? Tatata-taaa!?! Muss das sein?

Das Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (RSB) unter Vladimir Jurowski jedenfalls hat Beethovens Fünfte auf das Programm seines zweiten Konzerts beim Musikfest Berlin gesetzt. Doch was hören wir da, nach der faszinierenden Forschungsreise in die spieltechnischen und akustischen Möglichkeiten des Instruments Trompete in der Komposition »White« für Doppeltrichtertrompete solo von Rebecca Saunders, von Marco Blaauw als Solist eindrucksvoll und mit reichster Differenzierung interpretiert? Vier Posaunen spielen hinter dem für die große Sinfonie bereiten Orchester drei feierliche kurze Musikstücke für vier gleiche Instrumente. Also »Equale«, die Beethoven 1812 als Trauermusik für Allerseelen geschrieben hat (und deren erstes und drittes in einer Bearbeitung für Männerchor bei Beethovens eigener Beerdigung am 29. März 1827 erklangen).

Kaum sind die letzten Töne dieses kleinen Posaunenchors verklungen, stürzen sich Jurowski und das RSB Hals über Kopf in Beethovens revolutionärste Sinfonie. Und schon die ersten Klänge zeigen, wo es langgehen wird: Geschwind voran, ohne Atempause! Keine allzu lang gehaltenen Grundtöne, keine langen Pausen zwischen den beiden Artikulationen des Schlachtrufs, des berühmtesten Motivs der Musikgeschichte; wir hören die Fünfte komplett entschlackt, von allem hohlen Pathos befreit: Die Musik ist on fire, und wie!

Jurowski, der zuletzt noch die Beethoven-Sinfonien mit Mahlers verdeutlichenden »Retuschen« und opulenter Orchestergröße vorstellte, hat sich diesmal, wohl nicht nur aus der Corona-Not mit dem vom Senat verordneten Sicherheitsabstand zwischen den Musiker*innen, für die verschlankte Originalversion entschieden, mit drastisch reduzierten Streichern und mit Naturhörnern, -trompeten und -posaunen, wie sie zu Beethovens Zeiten üblich waren. Die großen Sinfonieorchester, wie wir sie heute kennen, sind ja eine Erfindung und Notwendigkeit moderner Zeiten - je größer die Konzertsäle, desto mehr Instrumente müssen auf die Bühne! Und je mehr Instrumente im Orchester, desto langsamer und getragener die Tempi. Nichts davon bei dieser fesselnden, ja geradezu existenziellen Interpretation. Hier erleben wir ein Orchester mit dem Sound - und einer epidemiebedingt drastisch reduzierten Zuschauerzahl -, vor allem aber mit der revolutionären Energie der Beethoven-Zeit.

Jurowski treibt das RSB zu einem aberwitzigen Tempo an; das entspricht den Me᠆tronomangaben des Komponisten, der ja ein Fan dieses neuen Geräts war und nicht nur seine damals aktuellen Kompositionen mit Metronomangaben versah, sondern auch für seine wichtigsten älteren Werke entsprechende Angaben veröffentlichte. Allerdings in dem Wissen, dass die Tempovorschriften »nur von den ersten Täkten gelten, denn die Empfindung hat auch ihren Takt«, wie der Meister notierte.

Und diese Freiheiten nimmt sich natürlich auch Jurowski, etwa beim Oboensolo im ersten Satz, einem retardierenden Moment mit seinem klagenden Innehalten, mit der »bangen Frage, bevor der Kampf wieder aufgenommen wird« (Georg Knepler: Sind wir noch auf dem richtigen Weg? Wie könnte, wie soll es weitergehen? Oder im ohnehin wunderbar gelungenen zweiten Satz: Das sich durch den ganzen Satz ziehende, animierende Wechselspiel zwischen Streichern und Holzbläsern (wir sind längst in As-Dur!) oder die köstliche Schlussfigur durchs ganze Orchester in Takt 97, die einen unwillkürlich schmunzeln lässt; und wie Jurowski die Streicher gegen Ende des Satzes zu dem dolce-Fagottsolo swingen lässt!

Jurowski entdeckt hier nicht zuletzt auch die Fröhlichkeit und Zärtlichkeit dieser Sinfonie, und vermutlich hat der Volksredner Beethoven genau dies zeigen wollen: Es geht nicht nur um Revolution, sondern auch um das Glück - und dieses Glück ist das Gegenteil von Zufriedenheit, vom bloßen Aushalten der Verhältnisse. »Nur wer im Zeichen einer Idee lebt, ist wirklich glücklich, und ist der Glücklichste von allen«, wissen wir von Alain Badiou.

Schließlich der berühmte Schlusssatz - eine an die Hymnen und Märsche der französischen Revolution (etwa von Gossec und Cherubini) erinnernde Musik, in der die zunächst von den Celli intonierte Nebenstimme in den Trompeten weitergeführt und immer triumphaler wird. Peter Gülke hat darauf hingewiesen, dass sie aus einem von Rouget de Lisle, dem Autor der Marseillaise, komponierten Lied stammt, in dem auf den von Beethoven ausgeliehenen Tönen »la liberté« gesungen wird. Es geht dem Komponisten um die Freiheit, und das sich kräftig in C-Dur-Akkorden austobende Finale gerät in Jurowskis faszinierender Deutung zu einer fröhlich-selbstbewussten Musik, zu der auf den Straßen getanzt werden darf - längst sind ja auch die Posaunen und eine Piccoloflöte hinzugekommen, erstmals in einer Sinfonie überhaupt explizit Instrumente der Freiluftmusik.

Diese Fünfte gerät zu einer beschwingten und Mut machenden Bestätigung für all die Kämpfe, die auf den Straßen noch auszufechten sind - hört her, Fridays for Future, Antifa und alle anderen: Dieser Beethoven ist für euch!

Wenn Beethoven so interpretiert wird wie an diesem rauschhaften Abend von Jurowski und dem RSB, dann gibt es nur eine Antwort: Ja, er muss sein!

Im Zoo-Palast präsentiert das Musikfest drei Filme: Das faszinierende Werk »Not I« (1973) von Samuel Beckett - man sieht nur den sich bewegenden Mund der in einem wilden Rap sprechenden Darstellerin Billie Whitelaw - sowie das von Beckett selbst inszenierte »Ghost Trio« (1975/75). Und schließlich den Film »Moving Picture (946-3)« von Gerhard Richter und Corinna Belz mit der live vom Trompeter Marco Blaauw gespielten Musik von Rebecca Saunders.

»946-3« ist ursprünglich ein Gemälde von Gerhard Richter, aus dem er zusammen mit Corinna Belz einen Film aus bewegten Farben schuf. Auf der Riesenleinwand bewegen sich zusammengelegte leuchtende Farben als horizontale Linien, ehe sie in eine Art vertikalen, in allen Farben schillernden Vorhang übergehen, mit ständig neuen Fantasiemotiven, die aus einer zentralen Achse symmetrisch entwickelt werden.

Ein endloser abstrakter Film, mit einer ebenso vielfältig schillernden Trompetenmusik, die elektronisch verstärkt und häufig mit viel Hall versehen wird (Klangregie: Sebastian Schottke) und das ganze Arsenal an Möglichkeiten dieses Instruments austestet. Man lehnt sich auf den gemütlichen Ledersesseln des Filmpalasts zurück und wähnt sich mehr und mehr in einer Art LSD-Trip in Zeitlupe: Aus den Farbkompositionen treten Nikoläuse, russische Mönche, Käfer oder ein indischer Tempelgarten hervor - you name it, es kommt auf deine Fantasie an, was du hier siehst.

Denn alles bleibt ja immer abstrakt, und dazu die wie improvisiert wirkende Trompetenmusik (tatsächlich kommen sich in Saunders Musik Jazz und komponierte Gegenwartsmusik erstaunlich nah: Wenn man es nicht wüsste, könnte man nicht sagen, ob Blaauw da gerade improvisiert), und so geht das endlos weiter. Wirklich nicht enden wollend - und da der Rezensent natürlich in Wahrheit nicht auf einem LSD-Trip ist, denkt er, als der abstrakte Motivteppich in die ursprünglichen horizontalen Linien zurückgeführt wird: Das alles könnte man natürlich ohne Weiteres auch als eine Art esoterischen Kitsch bezeichnen. Nicht aber diese tolle Musik!

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