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Körpergewebe als Erregungsmaterial

Die neue Gesellschaft für bildende Kunst in Berlin beschäftigt sich mit Passivität, Daten und der Macht der Pharma-Branche

  • Tom Mustroph
  • Lesedauer: 4 Min.

Die Ausstellung »Radikale Passivität. Politiken des Fleisches« der neuen Gesellschaft für bildende Kunst (nGbK) in Berlin blickt auf Körper und Fleisch als Terrain der Machtausübung. Dabei werden vergleichsweise historische Arbeiten wie Paul Theks Fleischobjekt »Untitled 79« aus den 60er Jahren mit aktuellen digitalen Repräsentationen des menschlichen Körpers sowie all den pharmazeutischen und datentechnischen Mitteln zu dessen Beherrschung in Verbindung gebracht.

Das ist natürlich ein großes Thema. Das Denkgeländer zum Ausstellungsparcours liefert der spanische Transgender-Aktivist und Philosoph Paul B. Preciado. Er untersucht, welche Einflüsse Hormone, Beruhigungsmittel und Aufputschmittel - sowohl legaler wie illegaler Provenienz - auf den individuellen Körper wie auch auf die Formierung der Gesellschaft haben. Der eigene Gendertransformationsprozess von Beatriz zu Paul dient ihm dabei als Referenz.

Preciado verleiht den Bio-Macht-Diskursen seines Vordenkers Michel Foucault eine neue Volte. Er lenkt sie einerseits auf das Arsenal der pharmazeutischen Produkte und analysiert andererseits, in einer weit größeren Bewegung, Formen der Erregung als Instrumente von Macht. Das schließt dann selbstverständlich auch mediale Erregungsformen ein. Preciado charakterisiert die heutige Gesellschaft daher als »pharmakopornografisch«. Pornografie ist schließlich die Erregungsindustrie schlechthin; Erregungsmechaniken haben aber weite Teile der Gesellschaft ergriffen, wie nicht zuletzt an den aktuellen Pandemie-Erregungen tagtäglich neu beobachtet werden kann.

Dankenswerterweise verzichten die Ausstellungskuratorinnen Kathrin Busch und Ilse Lafer komplett auf explizite Corona-Verweise. Sie verlassen sich auf die Stärke der vor der Pandemie ausgewählten Arbeiten. Bezüge stellen sich von ganz allein in den Assoziationsapparaten des Publikums ein. So erinnern die hauchdünnen Stoffvorhänge, mit denen der Architekt Eran Schaerf den Ausstellungsraum in kleine Separees und Logen teilt, an aktuelle Aerosolbarrieren. Gedacht sind sie aber als kuratorisches Mittel: Einzelne Arbeiten werden voneinander abgeschieden, manche mit einem - immer noch transparenten - Schleier des Geheimnisses überzogen. Und die rötliche Farbgebung verweist schließlich selbst auf Fleisch und Haut.

Am wohl nächsten kommen den von Preciado aufgeworfenen Diskursen die Video- und Virtual-Reality-Arbeiten von Sidsel Meineche Hansen. Im Video »Seroquel« wird die Wirkungsweise dieses vor allem bei Schizophrenie, bipolaren Depressionen und Manie eingesetzten Medikaments erläutert. Protagonistin des Videos ist dabei Eva 3.0, eine digitale Figur, in deren Blut- und Nervenbahnen die Kamera eindringt. Hansen geht in dem Video über den rein individuellen Rahmen der Wirkung des Medikaments auf Psyche und Körper hinaus und thematisiert die Macht, die pharmazeutische Unternehmen in unserer Gesellschaft durch ihre Produkte und die Zugangsmechanismen zu ihren Produkten ausüben.

Im Video »No Right Way 2 Cum« inszeniert die Künstlerin eine Art sexueller Befreiung von Eva 3.0, denn diese digitale Eva masturbiert und ejakuliert auf dem Bildschirm. Das British Board of Film Classification hatte für in Großbritannien produzierte Pornos solche Darstellungen verboten. Hier wird dieses Tabu gebrochen.

Die digitale Vermessung des Menschen und ganzer menschlicher Gesellschaften ist auch Thema von Clemens von Wedemeyers Video »Transformation Scenario«. Er diskutiert vor dem Hintergrund der Herstellung von digitalen Menschenaufläufen für Massenszenen in Filmen, aber auch für Verhaltensstudien von Menschenmassen zu Zwecken der Kontrolle und Aktivierung, wie der vermessene Mensch immer mehr zum Rohstoff der Industrie wird.

Unmittelbarer zugänglich als die Videoarbeiten - in die man sich pandemiebedingt mit einem stets frisch desinfizierten Kopfhörer, den man am Eingang erhält, einklinkt - ist Paul Theks »Fleischstück Nr. 79«. Es ist aus Wachs gefertigt und steckt hinter einer Glasscheibe - echtes Glas, kein Plexiglas.

In Form, Farbgebung und Struktur erinnert das Objekt aber tatsächlich an Fleisch. Man glaubt, Knochen, Sehnen und Blutgefäße zu erkennen. So roh, wie das Objekt wirkt, ruft es Erinnerungen an Schmerz hervor. Und die Vorstellung, dass Thek vor knapp sechs Jahrzehnten ganze Serien aus diesem Material hergestellt und damit in Anlehnung an die »Minimal Art« auch ganze Wände bedeckt hat, führt noch eine aparte kunsthistorische Spur in die Präsentation ein.

Zeitlich am weitesten holt allerdings Till Gathmann aus. Sein »Report« bezieht sich auf eine Untersuchung der massiv zerstörten Mumie des Pharaonen Ramses VI. Der Tod nach dem Tod, die Konsistenz des Biogewebes Jahrtausende nach dem Ableben, die Endlichkeit der Unendlichkeit stehen hier im Mittelpunkt.

Natürlich ließe sich eine Ausstellung mit diesen Thematiken viel spektakulärer entlang berühmter Positionen der Kunstgeschichte erzählen: mit den Darstellungen von Fleischlichkeit eines Francis Bacon; den Körpern, die Robert Mapplethorpe in Szene gesetzt hat; mit den Renaissance-Körpern Leonardos oder den Leidenskörpern, mit denen katholische Kirchen ausgemalt sind. Viele Arbeiten dieser Ausstellung sprechen auch weniger aus sich heraus als durch den Kontext, in den sie hier gestellt werden.

Aber die Fragen, die aufgeworfen werden, sind wichtig. Wie sehr strukturieren Erregungsmechanismen des Körpers und des visuellen Wahrnehmungsapparats den Einzelnen und die gesamte Gesellschaft? Wie wird deren »Fleisch« gebändigt und geformt, dressiert und abgerichtet? Und nicht zuletzt stellt sich ganz von allein der Zusammenhang dazu her, welche Instrumente und Strukturen die neue, die pandemische Disziplinargesellschaft hervorbringen wird.

Die Ausstellung wird von einem Programm aus Vorträgen, Performances und Filmvorführungen begleitet.

»Radikale Passivität. Politiken des Fleisches«, bis 1. November, neue Gesellschaft für bildende Kunst (nGbK), Oranienstraße 25, Berlin.

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