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A wie Alman

Die »Encyclopaedia Almanica« ist ein Archiv, das ständig bedroht wird

  • Samuela Nickel
  • Lesedauer: 6 Min.

Kann man es Duktus der Straße nennen? Oder die Sprache jener, die sich eigentlich nicht selbst zur Sprache bringen (dürfen)? Eine gewachsene Ausdrucksweise, die in sich Rassismus- und Ausschlusserfahrungen mittransportiert, um sich gleichzeitig in einem gegenseitigen Verstehen und Verständlichmachenkönnen zu solidarisieren? Diese neue deutsche Enzyklopädie ist vor allem: eine Verweigerung. Die »Encyclopaedia Almanica« verweigert sich in »Sprache, Rechtschreibung und Stil der gängigen Art des Verständlichmachens«, sie verweigert es auch, »sich dem deutschtümelnden Diskurs um Migration, Rassismus, Sexismus und Kapitalismus anzupassen«. Das »neue deutsche« vor Enzyklopädie steht hier für die Selbstverständlichkeit, Deutschland als eine Einwanderungsgesellschaft anzuerkennen.

Lexika und Nachschlagewerke bieten Orientierung und bilden die Welt zwischen zwei Buchdeckeln ab. Oder etwa nicht? Wie viel Macht haben eigentlich diese Kategorisierungen der Wirklichkeit in Sprache? Jede Menge. Denn was aufgenommen wird in die Enzyklopädie, was darin stehen bleibt, wer daran arbeitet und wer kategorisch ausgeschlossen und somit unsichtbar bleibt, ist stets von Machstrukturen bestimmt.

Nicht nur im Brockhaus, auch in der digitalen Variante, zum Beispiel bei der Freien Enzyklopädie Wikipedia, zeigt sich, dass Frauen, nichtbinäre oder Transpersonen und von Rassismus und Antisemitismus Betroffene und ihre Errungenschaften weniger Erwähnung finden als die ihrer normativen Mitbürger*innen. Lexika bilden nicht ab, sie schaffen einen voreingenommenen Ausschnitt der Wirklichkeit, den sie als allgemeingültig, seriös und immerwährend inszenieren. Genau deshalb ist dieses Genre in der Literatur auch schon öfter persifliert worden, sei es von Gustave Flaubert in seinem »Wörterbuch der Gemeinplätze« oder in »Des Teufels Wörterbuch« von Ambrose Bierce. Denn wenn jemand meint, alles besser zu wissen, bleibt er nicht lange vom Spott verschont. Vor allem nicht in Zeiten des Internets.

Es gibt natürlich auch emanzipatorische Nachschlagewerke, online wie offline, etliche Wikis zu Genderthemen beispielsweise, das Glossar der Neuen deutschen Medienmacher*innen oder das Lexikon »(K)Erben des Kolonialismus. Wie Rassismus aus Wörtern spricht«. Sie versuchen einerseits eben die bisweilen beengte Wahrnehmung der Welt durch Kategorisierung und Katalogisierung zu reflektieren und andererseits durch neue Interpretationen dem Blick auf die Wirklichkeit einen zusätzlichen Spin zu geben. So auch die »Encyclopaedia Almanica« - eine »emanzipatorische Schrift mit Stimmen, die sonst nirgendwo gehört werden«. Stimmen, die zwar im Kurznachrichtendienst Twitter gelesen werden können, dort aber in regelmäßigen Abständen gelöscht oder blockiert werden, vor allem seitdem dank des Netzwerkdurchsetzungsgesetzes (NetzDG) rechte Trollbanden kritische Meinungen mundtot machen - und damit das genaue Gegenteil dessen bewirken, was dieses Gesetz eigentlich intendierte.

Denn das NetzDG trifft auch Marginalisierte. Eigentlich für das Vorgehen gegen Volksverhetzung und Hasskommentare im Internet verabschiedet, nutzen es rechte Trollnetzwerke, um progressive Accounts stummzuschalten: Nutzer*innenkonten und und deren Inhalte werden gehäuft von so vielen anderen Accounts bei Twitter als vermeintlich rechtswidrig gemeldet, bis sie gesperrt werden. So wie das der Journalistin Nhi Le, als sie in einem Tweet darauf aufmerksam machte, dass es im Zuge der Gesundheitskrise um Covid-19 vermehrt zu rassistischen Vorfällen kam, vor allem gegen asiatisch gelesene Menschen.

Durch dieses Stummschalten sind bereits »wichtige Inhalte im Kampf gegen Rassismus und Sexismus und für ein besseres Leben verloren gegangen«, schreibt Herausgeberin Amina Aziz im Vorwort. Indem die digitalen (Selbst)Gespräche analog in der Enzyklopädie archiviert werden, stellt Aziz sicher, dass sie lesbar bleiben, obwohl sie im Netz verschwinden - und macht sie so auch einer breiteren Öffentlichkeit jenseits sozialer Medien zugänglich. Textfragmente der Journalist*innen Ayesha Khan, Bahar Sheikh und Hengameh Yaghoobifarah finden sich darin, aber auch unter Pseudonym verfasste Forderungen, Gedanken und Erlebnisse von Bloggerinnen und Aktivistinnen wie Ferraeterin, Zugezugenovic oder Hrmpfm. Sie bevorzugen Anonymität - auch im Print.

Die gedruckte Wiedergabe von Online-Diskussionen wirkt zwar erst befremdlich: so ganz aus dem Kontext gerissen und losgelöst von den Debatten und gesellschaftlichen Umständen, während derer sie entstanden sind. Gleichzeitig aber übt dieses Lexikon damit auch Kritik an gesellschaftlichen und politischen Diskussionen, die jene ausschließen, die keinen Hochschulabschluss haben, die nicht aus einer Familie kommen, in der Verwandte Doktortitel tragen oder deren Muttersprache nicht (nur) Deutsch ist. Es ist eine Kritik an Alman-Verhältnissen. Wer oder was sind die Almans? Das sind weiße Deutsche mit Migrationsdefizit, die denken, vorgeben zu können, was eine »deutsche Leitkultur« sei, die sich herausnehmen, einzuordnen, wer dazugehört und wer exotisch bleibt - und die entscheiden, wer Innenminister wird und wer in einer Polizeizelle stirbt.

Am 29. November 2016 schreibt Hrmpfm: »Es kommt nicht von ungefähr, dass BpoC Angst haben. Je gesellschaftsfähiger Rassismus wird, desto weniger Hemmungen haben Menschen. Je weniger Hemmungen sie haben, desto wahrscheinlicher werden körperliche Angriffe. … Nicht etwa, weil ich empfindlich wär, sondern weil ich Erfahrungen gemacht habe & die Geschichte mir zeigt, dass ich Angst haben sollte.« Im Gegensatz zu standardisierten Lexika gibt es hier Zeitangaben: Wann wurde der Tweet gesetzt? Was geschah in diesen Wochen? Die Enzyklopädie ist damit nicht nur Archiv, sondern Chronik der Verhältnisse. Eingebettet in die Geschehnisse entspinnt sich ein gesamtgesellschaftliches Gespräch.

»Das größte Problem ist dass Almans denken Nazis wären eine isolierte mystische Sekte mit der sie nix zu tun haben dabei sind das alles deren Bekannte, Freund*innen, Kolleg*innen, Familie«, schreibt Zugezugenovic am 7. Mai 2018. Yaghoobifarah führt dies weiter aus: »Von ›davon haben wir nix gewusst‹ und ›mein nazi-opa definiert mich nicht‹ will ich nix mehr hören. deutschland ist ein kollektives täter_innenland, dessen kontinuität mord ist. diese kontinuität wird nicht mal eben unterbrochen. Da müsst ihr schon in aktion treten« (11.07.2018). 11. Juli 2018, da verkündete der Senat das Urteil im NSU-Prozess. Die Akten werden für mehr als ein Jahrhundert weggesperrt. »deutschland riskiert lieber noch mehr morde an migrantisierten für die nächsten 120 jahre als seinen ruf, als ob es da noch was zu retten gäbe. keinschlussstrich« - so Yaghoobifarahs Einschätzung des Urteils. Wenige Monate später wird ein rechtes Netzwerk innerhalb der Bundeswehr enttarnt. Kurz darauf verübt ein rechter Terrorist einen Anschlag auf eine Synagoge und tötet zwei Menschen in Halle. Vier Monate später werden zehn Menschen in Hanau ermordet.

Twitter wäre aber nicht Twitter ohne die Shitpostings, Memes und billigen Witze. Auch das neue deutsche Lexikon ist mehrdimensional: Ja, es geht darin um rassistische Übergriffe, aber auch um Freundschaften, um Depressionen sowie um feministisches Empowerment; philosophische Tiefgänge treffen darin auf Wortfrotzelei: »Wie unbeschwert sich Almans freuen wenn Kinder ins Polizeiauto vom Karussell steigen«, beobachtet Ferraeterin beispielsweise. Das Internet kann manchmal auch zu einem Ort der Verbundenheit werden, um gemeinsam diskriminierende Erfahrungen zu verarbeiten, sich zu vernetzen und zu solidarisieren.

Durch die jüngsten Ereignisse in der Debatte um Polizeigewalt, in der Journalist*innen mit juristischen Konsequenzen bedroht werden, hat sich noch einmal stärker gezeigt, wie wertvoll diese Enzyklopädie ist. Hoffen wir, dass Ferraeterin mit ihrem Verdacht nicht recht behalten wird: »Was Almanlinke sagen: Nazis klatschen Was Almanlinke tun würden: Nazis klatschen mit denen sie nicht verwandt oder befreundet sind Was Almanlinke tun: nichts«.

Amina Aziz (Hg.): Encyclopaedia Almanica. Edition Assemblage, 96 S., br., 9,80 €.

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