nd-aktuell.de / 19.09.2020 / Politik / Seite 3

Die nächste Verkehrswende

Dem öffentlichen Nahverkehr ist vor 20 Jahren mehr Wettbewerb verordnet worden. Das Ergebnis: niedrige Löhne, weniger Personal. Jetzt will die Gewerkschaft Verdi umsteuern.

Ines Wallrodt

Die Gewerkschaft Verdi will in der aktuellen Tarifrunde für den öffentlichen Nahverkehr Verschlechterungen zurückzudrehen, die Privatisierungs- und Wettbewerbsfixierung vor 20 Jahren erzwungen haben. Doch die kommunalen Arbeitgeber haben sich Verhandlungen auf Bundesebene verweigert. Deshalb stehen nun Busse und Bahnen still - zum ersten Mal seit 20 Jahren machen die ÖPNV-Beschäftigten bundesweit gemeinsam Druck.

Anfang der 2000er Jahre wurde der Nahverkehr in Deutschland dem europäischen Wettbewerb ausgeliefert und die Kommunen drängten auf Einsparungen und setzten Verschlechterungen für Beschäftigte durch. So wurden Reinigungskräfte und Kontrolleure, aber auch Kernbereiche wie Bus-, Straßen- und U-Bahnfahrer in Tochterfirmen mit schlechteren oder gar keinen Tarifverträgen ausgegliedert, Tausende Stellen im Fahrdienst, aber auch in Werkstätten, bei Instandhaltung, Service und Verwaltung wurden abgebaut, die Löhne gekürzt. »Der Druck war immens«, sagt Mira Ball, Bundesfachgruppenleiterin Busse und Bahnen von Verdi, dem »nd«. Privatfirmen übernahmen Strecken. »Hessen hat damals unter Roland Koch sogar alle Verkehre europaweit ausgeschrieben.«

Inzwischen gibt es nach Angaben der Gewerkschaft 18 Prozent weniger Stellen im öffentlichen Nahverkehr, während zugleich 25 Prozent mehr Fahrgäste befördert werden. Betriebs- und Personalräte klagen über Arbeitsverdichtung und Stress[1] - viele Verkehrsunternehmen verzeichnen hohe Krankenstände.

Mehr Einzeltarifverträge, weniger Lohn

Tarifpolitisch fand eine zunehmende Zersplitterung statt. So stimmte Verdi vor 15 Jahren unter Druck eigenständigen Tarifregeln für den Nahverkehr zu, womit der öffentliche Personennahverkehr (ÖPNV) aus dem bundesweiten Tarifsystem des öffentlichen Dienstes herausgelöst wurde. Damit sollten Arbeitsplätze in den kommunalen Verkehrsbetrieben gesichert werden, gleichzeitig setzten die Arbeitgeber eine Vielzahl von Verschlechterungen, vor allem für Neueinsteiger, durch.

Überdies wurden die Tarifverträge für den Nahverkehr auf Landesebene verhandelt. Je nach Kassenlage und Wettbewerbsdruck der Kommunen sind die Arbeitsbedingungen in den einzelnen Bundesländern nun höchst unterschiedlich. Und die Fahrer und Fahrerinnen von Bussen und Straßenbahnen kämpfen seither in der Bundesrepublik getrennt voneinander. Mal in Thüringen oder Hessen, mal in Nordrhein-Westfalen oder Berlin, hier im Februar, dort vielleicht im September. Das macht in der Regionalzeitung Schlagzeilen, bundesweit Wirkung entfalten diese Arbeitskämpfe jedoch kaum. Für Verdi erschwert diese zersplitterte Tariflandschaft die Durchsetzung der Interessen ihrer Mitglieder. Zudem ist es schwieriger, eine breite Debatte über die desolate Lage des öffentlichen Nahverkehrs anzustoßen.

Doch nun will die Gewerkschaft Terrain zurückerobern. Erster Schritt war, alle 16 Landestarifverträge im Nahverkehr zeitlich zu synchronisieren, so dass sie nun alle zur gleichen Zeit neu verhandelt werden müssen, und zwar jetzt. Dadurch können die Beschäftigten auch bundesweit gemeinsam streiken. Die konzertierte Tarifkampagne umfasst 130 Betriebe des ÖPNV mit über 87 000 Beschäftigten. Zudem haben Belegschaften und Gewerkschaft für diese Runde neue Partner gefunden: Die jungen Klimaaktivisten von Fridays for Future unterstützen[2] den Arbeitskampf öffentlich mit Aktionen.

Verdi will mit den Arbeitgebern diesmal nicht nur auf Landesebene verhandeln. Zentrale Fragen sollen vielmehr auf Bundesebene mit der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) ausgehandelt werden, um bundesweit einheitliche Regelungen festzulegen. Es geht um elementare Arbeitsbedingungen wie Urlaub und Überstundenberechnung, Pausen und Dienstplanung, Sonderzahlungen und Schichtzulagen. »Wir wollen die Ungerechtigkeiten zwischen den Beschäftigten der einzelnen Länder beseitigen«, sagt die Gewerkschafterin Ball. Das Argument: Ob ein Bus nun in Osnabrück oder Magdeburg fährt - im Kern ist die Arbeit überall gleich und soll daher auch gleich behandelt werden. Ein Ziel ist beispielsweise, dass alle Beschäftigten 30 Tage Urlaub im Jahr haben.

Verdi verbindet mit dem Schritt auf die Bundesbühne auch die Chance, das Thema Verkehrswende und eine bessere Finanzierung des ÖPNV an die richtige Adresse tragen zu können. Bundesweit stehen Investitionen in Milliardenhöhe für den Erhalt der vorhandenen Infrastruktur und des Fahrzeugparks, für digitale Entwicklungen und fürs Personal aus. Diese Summen können durch die Kommunen nicht allein gestemmt werden, darin sind sich Gewerkschaft und Arbeitgeber immerhin einig. Dafür brauchen die Kommunen finanzielle Unterstützung von Land und Bund. Aus Sicht von Verdi könnten Verhandlungen auf Bundesebene die Tür öffnen, die Finanzmisere der Kommunen zu lösen.

Bessere Arbeitsbedingungen? Nicht nötig

Eigentlich könnte die Vereinheitlichung auch aus Arbeitgebersicht wünschenswert sein. Gerade in Metropolregionen machen sich Nahverkehrsunternehmen das Personal gegenseitig abspenstig. Sind die Arbeitsbedingungen überall gleich, würde sich Konkurrenz verringern. Außerdem spart eine Flächenlösung den Stress der Einzelverhandlung. Doch auf Arbeitgeberseite stehen andere Punkte im Vordergrund. So herrscht etwa die Sorge, die Übersicht über das Gesamtpaket und damit über die Steigerung der Personalkosten zu verlieren, wenn parallel auf Landes- und Bundesebene verhandelt würde. In der Tat hat Verdi das Gesamtvolumen der Forderungen nicht beziffert.

Das führte der kleine Kommunale Arbeitgeberverband Thüringen, der sechs Nahverkehrsbetriebe mit über 1700 Beschäftigten organisiert, vor der Mitgliederversammlung der Vereinigung der kommunalen Arbeitgeberverbände (VKA) ins Feld, die die Verhandlungen schließlich ablehnte. Überdies vertrat er die Linie: »Eine weitere Verbesserung der Arbeitsbedingungen und des Entgeltes im Nahverkehr, auch um die Arbeit attraktiver zu machen, erscheint derzeit nicht erforderlich und auch bei den derzeitigen Rahmenbedingungen nicht möglich.« Angesprochen sind damit die Einnahmeverluste durch den Rückgang der Fahrgastzahlen infolge der Corona-Pandemie. Wenn Verdi mit der notwendigen Verkehrswende und dem Nachwuchsmangel argumentiert, betonen die Thüringer Arbeitgeber die Unsicherheiten, die die Pandemie für den öffentlichen Nahverkehr bedeutet. So würden zwar in diesem Jahr die Verluste vom Bund kompensiert, darüber hinaus sei jedoch nicht abschätzbar, »ob die Fahrgastzahlen in den Folgejahren jemals wieder den ursprünglichen Stand erreichen und ob beziehungsweise welche Kompensationsleistungen zu erwarten sind«, hieß es. Bei Verdi versteht man die Schwierigkeiten nicht. Richtig sei das Gegenteil, sagt Mira Ball: Die parallele Verhandlung sei notwendig, um ein Gesamtbild zu bekommen.

Die kommunalen Arbeitgeber wussten, dass die Gewerkschaft mit Warnstreiks reagieren würde. Verdi hat seine Mitglieder schon vor Wochen darauf eingestimmt, »den Druck in der Tarifrunde schnell zu erhöhen«, sollten die Verhandlungen über einen Rahmenvertrag abgelehnt werden. »Dass die Arbeitgeber nicht einmal zu einer Verhandlung bereit sind, verhöhnt die Beschäftigten und torpediert jede Bemühung, eine Verkehrswende zu erreichen«, sagt die stellvertretende Verdi-Vorsitzende Christine Behle. Der Warnstreik soll nun »ein deutliches Signal senden, wie ernst die Lage ist«.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1140614.tarifrunde-im-nahverkehr-man-kann-nicht-mal-zur-toilette.html
  2. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1140471.klimaprotest-fridays-for-nahverkehr.html