nd-aktuell.de / 21.09.2020 / Kultur / Seite 14

Neues aus dem Niedergang

Was treibt eigentlich der alte weiße Mann? Zwei Theaterabende in Hamburg und Bochum fragen nach

Jakob Hayner

Das Schicksal des alten weißen Mannes erregt die Gemüter in der politischen Arena. Entweder ist er der Urvater aller Exzesse des Kapitalismus oder das Opfer des Furors der Jugend. Was noch vor kurzem als gesellschaftliches Ideal galt, lässt sich nicht mehr aufrechterhalten. Zumindest nicht unhinterfragt. Ob das hingegen als Erfolg einer fortschrittlichen Kritik zu verbuchen oder den Umbrüchen in der Produktion anzulasten wäre, ist insoweit nicht unwichtig, als es die Frage des politischen Programms zwischen radikalisierter Rhetorik der Chancengleichheit und angestrebter Neuordnung der gesellschaftlichen Arbeitsteilung betrifft. Doch im Moment richtet sich das Interesse vor allem auf jenes deutlich angeschlagene Gebäude, als dessen Hausherr der alte weiße Mann noch immer gilt, obwohl der Putz schon ab ist. Zeit also für Blicke hinter die abgebröckelte Fassade - wie es »Der Geizige« am Thalia Theater Hamburg und »König Lear« am Schauspielhaus Bochum wagen.

Alles dreht sich um das liebe Geld in Molières rasanter Komödie »Der Geizige«. Der alte Harpagon besitzt es - zudem nicht gerade wenig - und möchte es nie wieder hergeben. Er versteckt seinen Schatz, vergräbt ihn im Garten, bewacht ihn. Zugleich beherrscht dieser all seine Gedanken. Die Angst vor dem Verlust ist unbändig. Harpagon ist im Grunde ein klinischer Fall, er ist besessen von einer Perversion, die all seine Lust an ein Objekt knüpft, das nach allgemeiner Lehre dem Zurücklieben nicht fähig ist; zugleich von einer krankhaften Paranoia und Eifersucht erfüllt, von der Angst, sein heiß geliebtes Geld könnte mit jemand anderem fremdgehen. Doch was unter dem einen Blickwinkel als geradezu wahnhaft erscheinen muss, gilt unter einem anderen als bürgerliche Tugend, als Sorge um den eigenen Besitz. Mit was für einer Figur haben wir es zu tun? Einer lächerlichen - oder einer ernstzunehmenden? An der Grenze dazwischen spielt Jens Harzer den Harpagon: ein ungelenker, dickleibiger, buckliger Kleinbürger mit Bürstenhaarschnitt, Schnauzer und Überbiss, dem die Lesebrille am Bändchen über der eingefallenen Brust schlackert. Aus der Ferne mag man noch ein wenig Al Pacino vermuten, aus der Nähe ist es dann mehr Horst Schlämmer.

Harzer, der hinter Rolle und Kostüm so verschwindet, dass es jedem an neuester Perfomancetheorie geschulten Theaterwissenschaftsstudenten ein Graus sein müsste, spielt das Gefälle grandios aus. Das Publikum verfolgt seine Auftritte mit großem Gelächter, all die absurden Fixierungen und plumpen sexuellen Anspielungen, auf die dann jene cholerischen und autoritär-ekligen Ausbrüchen folgen, von denen alle betroffen sind, die sich nicht seinem Willen beugen - wie seine Kinder. Es benötigt allerlei Wirrungen und Irrungen, bis ein gutes Ende gefunden ist. Regisseur Leander Haußmann lässt vier Akte auf nahezu leerer Bühne spielen, bevor im finalen fünften Akt ein barockes Spiel im Spiel aufgeführt wird. Harpagon, der in schwere Depression verfällt, als ihm sein Geld geklaut wird, muss einsehen, dass es für das Geld das Beste ist, wenn es auf das Abenteuer der Zirkulation geschickt wird. Schatzbildner wie Harpagon verspottete auch Marx als irrationale Kapitalisten. Zudem das Geld sogar meist eh in der Familie bleibt: Denn es ist treuer als man denkt, es bleibt immer bei denen, die es sowieso schon haben.

Weitaus tragischer verläuft die Geschichte bei »König Lear«, dem wohl dunkelsten der Shakespeare-Dramen, das Johan Simons in Bochum inszeniert hat. Der von Pierre Bokma gespielte altersmüde König ahnt, dass er bald sterben muss. Er möchte sich von der Macht trennen, das Reich zwischen seinen drei Töchtern aufteilen. Er fordert Liebesbekundungen - gewohnt, Liebe in die Sprache der Macht und in die von Gehorsam und Treue zu übersetzen. Doch die jüngste Lieblingstochter verweigert sich diesem Ritual. Ohne Thron erweist sich Lear als kaputter Tyrann, der alsbald dem Wahnsinn verfällt. Und man ahnt, dass er als Herrscher zuvor nicht viel anders gewesen war, doch die Macht verleiht noch dem deformiertesten Charakter eine Legitimation. Wie bei Harpagon ist es vor allem die Angst vor dem Tod und dem Verschwinden, die Lear antreibt. Zwanghaft klammert er sich an die Macht wie der Geizige an das akkumulierte Geld. Doch gibt es für den alten weißen Mann nur eine Chance, wahrhaft zu sich selbst zu kommen, indem er beides verliert. Auch wenn’s schwerfällt.

»König Lear«, bis 9. Oktober am Schauspielhaus Bochum und »Der Geizige«, bis 20. Oktober am Thalia Theater Hamburg.