Empathie für das Anderssein

Oliver Sacks letzte Fälle

  • Harald Loch
  • Lesedauer: 3 Min.

Posthum erschien der letzte Band des wohl einflussreichsten Neurologen der letzten Jahrzehnte, der an dessen legendäre Fallgeschichten anknüpft. Auch diese berichten auf literarisch höchstem Niveau von Patienten und vom Wissenschaftler selbst. Der 1933 (nicht 1943, wie es im Klappentext der deutschen Ausgabe heiß) in London als jüngstes von vier Kindern einer aus Litauen stammenden orthodox-jüdischen Familie Geborene verbrachte die überwiegende Zeit seines Lebens in den USA an verschiedenen renommierten Krankenhäusern. Seine Geschichten offerierten nicht nur für Mediziner hochinteressante Diagnosen und Therapien, sondern stets auch autobiografische Miniaturen. Darin schildert er unter anderem seine vom Vater übernommene Leidenschaft fürs Schwimmen, die ihn beim (schwimmenden) Umrunden einer Insel zum Erwerb eines Hauses in New York City verhalf. Er erzählt, auch das kurios, wie seine farbige, streng katholische Haushälterin ein Rezept seiner Mutter nachkochte: »Gefillte Fisch«. Sacks stellt sich vor, wie die offenbar geschickte Köchin für ihre katholischen Gemeindemitglieder die typisch jüdische Speise serviert.

Die im Buch enthaltenen medizinischen Fälle wirken wie ein Appell an die Leser, »sich in die Geistesverfassungen hineinzudenken, die anders sind als ihre eigenen, und so zu einer radikalen Form der Empathie zu finden«, wie die »Los Angeles Times« treffend bemerkte. Es ging Sacks stets darum, hinter und in dem Anderssein eine menschliche Existenz mit eigener Würde zu erkennen und zu respektieren. Seine Empathie überträgt sich auf die Leser. Sie lernen Krankheiten mit ihren verschiedenen Ausprägungen kennen, zum Beispiel »Tourette« (physische und verbale Ticks) und die genetische Komponente dieser Erkrankung oder den Zusammenhang zwischen Alzheimer und Vitamin-B12-Mangel. Sachs kämpfte ebenso gegen die gesellschaftliche Ächtung von bipolaren Störungen (manisch-depressive Störung). Er klärte über Behandlungs- und Heilungsmöglichkeiten auf, warb mit viel Energie für ein würdevolles Leben der Kranken, sei es in psychiatrischen Heilanstalten oder sei es in »Freiheit«, die von den Betroffenen oft eher als feindselig empfunden wird.

Die universalen Interessen des genialen Menschenfreundes kommen in Miniaturen aus der Botanik - beispielsweise über die reichhaltige Flora der Farne mitten in New York City - oder in der komplizierten Erforschung des Ganges der Elefanten zur Geltung. Sacks saß im Stiftungsrat des New York Botanical Garden. Und zu seinem 75. Geburtstag wurde gar ein Asteroid nach ihm benannt. Seine frühe Veröffentlichung »Awakening« (1973) wurde mit Robert De Niro und Robin Williams verfilmt.

Dieser Nachklang zu einem großen Leben aus dem Nachlass des »Poeta laureatus der Medizin« wird nicht so schnell verhallen, weil Oliver Sacks dafür gesorgt hat, dass sich noch posthum »alles an seinem Platz« findet.

Oliver Sacks: Alles an seinem Platz. Erste Lieben und letzte Fälle. A. d. Engl. v. Hainer Kober. Rowohlt, 287 S., geb., 24 €.

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