Splitter im Kopf

Die Andere Welt Bühne in Strausberg verbindet globale Zukunftsfragen mit lokalen Geschichten

  • Inga Dreyer
  • Lesedauer: 5 Min.

Ein großer blauer Kasten als Farbtupfer im scheinbaren Nirgendwo. Daneben ein Gatter, hinter dem manchmal Schafe grasen. Die leuchtende Betonhalle war früher das Wasserwerk einer Bunkeranlage auf einem DDR-Fernmeldegelände. Heute beherbergt das Gebäude am Rande von Strausberg (Märkisch-Oderland) ein Theater: die Andere Welt Bühne.

Der Ort vermittelt - besonders mit der S-Bahn angereisten Berliner*innen - tatsächlich den Eindruck, in einer anderen Welt gelandet zu sein. In seinem Inneren riecht der Betonkasten unerwartet waldig. Weit voneinander entfernt stehende massive Holzbänke gruppieren sich um eine nach Ideen des Architekten und Bühnenbildners Friedrich Kiesler (1890-1965) konstruierte Drehbühne. Gebaut wurde sie von der »Waldwirtschafterei« auf dem Gelände, das Holz stammt aus dem umliegenden Wald.

Nachhaltigkeit ist eines der Zukunftsthemen, die hinter wie auf der Bühne verhandelt werden. Es geht um die großen Fragen: Wie gehen wir mit Natur um? Wie wollen wir leben? Der Blick richtet sich nach vorn, aber auch zurück - wie an diesem Spätsommerabend, an dem »Unvergessen« auf dem Programm steht. Das Stück kreist um die deutsche Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg.

Drei Schauspieler*innen erzählen Familiengeschichten. Eine Frau in Weiß sitzt an einem massiven Holztisch, fährt mit dem Finger über die Platte. »Sind die Splitter aus dem Krieg?«, fragt sie. Inés Burdow spricht in der Rolle ihres eigenen, jugendlichen Ichs, das mehr über ihren Großvater Erich herausfinden will. Sie kennt ihn nur vom Bild überm Sofa. Wenn sie als Kind nicht schlafen konnte, überlegte sie: »Wenn er im Krieg war, hat er dann auch Menschen getötet - der Opa Erich mit den lachenden Augen?«

Sie kann ihn nicht mehr fragen. Sie nähert sich ihm über seine Tagebücher aus der Gefangenschaft, die er in Form von Briefen an Frau und Kinder schrieb: »Nur der Gedanke an Euch hält mich immer wieder aufrecht.« Er sei früher stolz gewesen, ein Deutscher zu sein. »Jetzt ist mir alles egal.«

Auch Melanie Seeland, die das Theater mit Inés Burdow betreibt, hat zu ihrer eigenen Familiengeschichte recherchiert. Die Schauspielerin schlüpft in die Rolle ihrer Urgroßmutter, die Mitglied des anarchistischen Widerstands gegen die Nazis war und ins Konzentrationslager kam. Sie berichtet vom morgendlichen Appell in Ravensbrück, zu dem auch Kinder antreten mussten. »Wenn man sich gerührt hat, wurde man zusammengeschlagen.« Stillstehen war die einzige Chance. »Da muss man die Faust schon in der Tasche lassen.« Die Schauspielerin wiederholt Sätze wie in Trance, fährt nervös mit den Händen über den eigenen Körper.

Das Stück zeigt: Der Krieg ist Teil jeder deutschen Familiengeschichte. Seine Splitter stecken nicht nur in den Küchentischen, sondern auch in den Köpfen - und fristen dort ein Dasein als Tabu und versteckte Wunden.

Wer nachfragt, riskiert, mit unangenehmen Wahrheiten konfrontiert zu werden. Dafür steht die dritte Geschichte des Abends - geschrieben von einem anonymen Autor, erzählt von Schauspieler Thomas Hupfer. Auch diesmal geht es um einen Großvater - der jedoch hoher NSDAP-Funktionär war. Ebenso unerträglich wie vertraut wirkt der Versuch des Autors, diesen Mann in Schutz zu nehmen. Jeder Strohhalm, der seiner Entlastung dienen könnte, wird ergriffen. Der Enkel sinniert: Macht die Internierung durch die Russen den Opa nicht irgendwie auch zum Opfer? »Unvergessen« zeigt: Der Wunsch, die Schuld der eigenen Familie zu relativieren, ist bis heute symptomatisch für den Umgang mit der deutschen Geschichte.

Thomas Hupfers eigene Geschichte, die er am Ende ergänzt, handelt auch von Unterschieden zwischen den Generationen. Einer der ruhigsten und eindringlichsten Momente des Abends entsteht, wenn er über seinen eigenen Großvater spricht. Auch für ihn ist dieser Mann nur ein Bild, ein schwarz-weißes Porträt in einem braunen Rahmen. Seiner Mutter sei es egal gewesen, was dieser Mensch im Krieg getan habe. »Sie hätte gerne einen Vater gehabt.«

Ihm ist es nicht egal, doch er kann den Opa nicht mehr konfrontieren. Es bleibt der Kampf gegen die Lähmung und das Schweigen, das in vielen Familien bis heute herrscht. »Irgendwie hat hier doch immer alles noch mit diesem Krieg zu tun«, sagt Hupfer.

Es sei schon länger klar gewesen, dass die Andere Welt Bühne ein Stück über die Erinnerung an den Zweiten Weltkrieg machen wolle, erzählt Inés Burdow nach der Vorstellung. »Das ist ein Thema, das in dem ganzen Kuddelmuddel nicht untergehen darf.« Die Beschäftigung mit eigenen und fremden Erinnerungen hat die Theatermacherinnen lange beschäftigt - und ihnen bisweilen Albträume beschert, wie Inés Burdow berichtet.

Bei »Unvergessen« hat das Team der Anderen Welt Bühne zum ersten Mal mit dem Regisseur Paul Spittler zusammengearbeitet, der in Strausberg aufgewachsen ist und in Dresden sowie in Wien studiert hat. Dass es in seinem Heimatort seit ein paar Jahren ein Theater gibt, habe der Anfang 30-Jährige von seiner Strausberger Oma erfahren, erzählt Inés Burdow. Daraufhin habe er die Theaterbetreiberinnen angeschrieben und gefragt, ob sie zusammenarbeiten wollten.

Herausgekommen ist der erste Teil der Projektreihe »Die Suche nach dem geglückten Unvergessen«. Stücke zu den Themen Kalter Krieg und Verfremdung der Verheerung sollen folgen.

Bei der Entwicklung solcher Stoffe stürzen sich die Theatermacher*innen nicht nur auf die großen historischen und politischen Fragen, sondern beziehen lokale Perspektiven mit ein. Auch für »Unvergessen« haben sie mit Strausberger*innen über deren persönliche Erfahrungen und Familiengeschichten gesprochen. Eingeflossen sind diese Interviews beispielsweise in eine etwas aneinandergereiht wirkende Passage über lokale Kriegsereignisse. Menschen aus Strausberg aber werden darin persönlich Erlebtes oder Überliefertes entdecken.

Die Theatermacher*innen sammeln Geschichten, tragen Wissen von Expert*innen und Kunstschaffenden zusammen und entwickeln daraus Stücke, in denen sie Textfragmente zu Collagen verweben. Mehrere solcher Recherchestücke hat das Team bereits mit dem Regisseur Rico Wagner realisiert - unter anderem zum Mauerfall.

Bisweilen verstricken sich Melanie Seeland und Inés Burdow dabei auf der Bühne in engagierte Diskussionen über die Zukunft des Planeten. Diskursschwank nennen die beiden Theatermacherinnen dieses Genre. Die Bühne führt diesen Diskurs nicht alleine, sondern als Teil von mehreren Projekten auf dem Gelände. Beispielsweise soll der Bunker für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden und eine Gaststätte eröffnen.

Nächste Vorstellung von »Unvergessen«: 25. September, 2. und 3. Oktober, 19.30 Uhr

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