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  • »Die Kinder von Golzow«

»Und bleiben Sie schön neugierig!«

Deutsche Einheit vorher und nachher: Gedanken zum 7. Oktober 2020 auf Grundlage eines Statements vom 3. Oktober 1990

  • Winfried Junge
  • Lesedauer: 6 Min.

So wie jeder Mensch, so hat auch jedes Land seine Zeit, jede Gesellschaft die ihre. Beinahe 41 Jahre DDR - das ist nun vorbei. Es war mein Leben vom 14. Lebensjahr an. Als sich Deutschland teilte, war ich in seinem Osten geblieben. Weil ich eine Hoffnung hatte. Nicht, weil ich alles verstand und richtig fand, was geschah.

Ich habe hierzulande leben können, und ich konnte in vielem das werden und tun, was ich für mich als richtig erkannt hatte. Beispielsweise die Filmchronik der »Kinder von Golzow«. Vielleicht wäre so etwas auch in dem anderen deutschen Staat möglich gewesen. Aber der Beweis ist nun einmal nicht zu erbringen. Chancen, die Leben bietet, kann man nicht gleichzeitig nutzen. Ich wurde gebraucht, und das war ein gutes Gefühl.

Wer gebraucht wird, der kann auch missbraucht werden. Und das ist beileibe keine Erfahrung, die sich in unserem Berufsstand nur in der Gesellschaft ergeben konnte, die eine sozialistische werden wollte.

Was habe nicht auch ich aus dieser so bequem zitierbaren »Einsicht in die Notwendigkeit« für Freiheit zu gewinnen geglaubt. An die Stelle von Ideologie ist nun die harte Mark getreten. Und wie frei ich bin, mich durch sie nicht neu und in viel totalerem Maße benutzen zu lassen, wird sich erst herausstellen.

Ich nehme Abschied von dem, was wir einmal sehr selbstverständlich »unsere Republik« nannten. Die so recht keine Republik wurde und die nun, da sie das Wort »demokratisch« endlich zu Recht tragen könnte, nicht mehr existiert.

Sinn macht das gerade nicht, aber da wir tatsächlich ein Volk sind und die sozialistische Alternative DDR nur so lange Lebensrecht hatte, wie sie nicht nur behauptet, sondern real, beweisbar lebensfähig war, ist es mit dem Zusammenbruch dieses anderen, unseren Deutschlands eben geschehen. Mir kommt es nicht so leicht von den Lippen - dieses: »Man sollte der DDR nicht nachtrauern!« Auch wenn einem in der Stunde, die für die einen eine bittere, für die anderen eine erlösende war, alles als »falsch gemacht« erscheint. Es war wohl nicht alles vergebens. Und nach allem, was der Gründung der DDR in der deutschen Geschichte vorausging und diesen Versuch, sich radikal von Nationalismus und Faschismus abzuwenden, auslöste, erscheint er mir noch immer berechtigt.

Dieser Ansatz zu einem radikalen Neubeginn war gewiss nicht falsch, so mancher ihm folgende, durch ihn bedingte Schritt allerdings schon. Der »diktierte« Sozialismus - einer von oben nach unten, der sich da entwickelte - konnte es jedenfalls auf Dauer nicht sein, mochte man sich auch auf die »Diktatur des Proletariats« berufen. Und fand sich in Schülerdiktaten dieses »mus« nicht schon mit ›ss‹.

Mir war immer klar, dass die ehemalige Bundesrepublik, in der man, ob wir das leugneten oder nicht, auch aus den Erfahrungen der Vergangenheit lernte, nicht nur wirtschaftlich stark sein würde. Und dass sie gegen den unliebsamen Rivalen DDR alle Trümpfe eines wiedererstarkenden Kapitalismus ausspielte, um uns in die Defensive zu zwingen. Umso mehr reizte mich das gesellschaftliche Experiment auf unserer Seite. Es mitgemacht zu haben, hat auch etwas mit Idealismus zu tun, der zum Jungsein gehört. Selbst wenn es scheiterte, weil eine Mauer daraus einen Treibhausversuch machte. Ich habe meiner Generation im Westen Deutschlands eine Erfahrung voraus, die mich prägte und die ich nicht missen möchte. Denken die 68er dort heute nicht ähnlich? Wurde ihnen nicht auch eine Hoffnung genommen? Woran sich nun halten? Die Demokratie an sich ist für mich nicht das Ziel aller Ziele. Sie ist für mich nur Mittel zu Ziel und Zweck, dem Menschen vor allem ein Leben in Würde und frei von existenzieller Not zu ermöglichen.

Als Filmdokumentarist bin ich Beobachter. Wie wird es mit Deutschland - und mit mir darin - weitergehen? In »Außenseiter Spitzenreiter«, einer Sendereihe des DDR-Fernsehens, hieß es am Ende stets: »Und bleiben Sie schön neugierig!« Ich habe immer Kraft aus Neugier gewonnen. So schwer die Zeiten auch waren. Ich sagte mir: Sehen, was sich dennoch oder gerade deshalb machen lässt.

Im Umgang miteinander wünsche ich uns nun auch weiterhin Anstand und solidarische Haltung, Moral und Toleranz. Und Brecht/Eislers »Kinderhymne« aus dem Jahr 1950, die mich ein Leben lang begleitet und auch jetzt nicht die neue deutsche Nationalhymne wurde, kommt mir in den Sinn. Aus dem ersten Wort ihrer ersten Zeile zwei Wörter machend, wie es der Dichter bewusst doppeldeutig gemeint haben könnte, zitiere ich: »An Mut sparet nicht noch Mühe,/Leidenschaft nicht noch Verstand./Dass ein gutes Deutschland blühe./Wie ein andres gutes Land.« In diesem Sinne!

Postskriptum eines 85-Jährigen 2020

Mit neun Jahren schon ohne Vater, mit achtzehn auch ohne Mutter, wollte ich nach über einem Jahrhundert Kapitalismus und zwei von Deutschland verschuldeten Weltkriegen das Meine dazu tun, dass es hierzulande nicht wie gehabt weiterging:

Diente ich damit der DDR als einem »Unrechtsstaat«, der sie von Anfang an gewesen sein soll, oder waren es nicht vielmehr die Konsequenzen des Experiments, dass dabei ebenfalls Unrecht geschah? Auch wenn zuletzt Hunderttausende dem Lockruf des Westens folgten, Millionen blieben. Und nicht nur, weil sie in »der« Partei waren. So wie auch ich, den man dennoch diese nicht immer politisch »astreine« Langzeitchronik fast drei Jahrzehnte machen ließ.

Dokumentarfilme zur Geschichte können ein anstrengendes Angebot sein, weil sie Unwissen, Irrtümer und Vorurteile bloßstellen, wenn man sich den Tatsachen und ihren Botschaften aussetzt. Der Faktor Zeit als innovatives Gestaltungsmittel und Interpret, mit dem unsere Langzeit-Dokumentation arbeitet, kann helfen, aus der Vergangenheit Zukunft zu erkennen, um Lehren daraus zu ziehen.

Und das trifft nicht nur auf den am Ende bloß noch »real« genannten Sozialismus zu, sondern ebenso auf den ungleich folgenreicher gescheiterten Faschismus. Da kommt längst Gefahr auf, der sich die Nachgeborenen entgegenstellen müssen. Mehr denn je aber auch wir für sie.

Die deutsche Einheit hat vielen Gutes gebracht, wenn auch nicht jedermann »blühende Landschaften« erleben lassen. Und Enttäuschungen spalten die Gesellschaft. Dennoch steht die DDR 30 Jahre nach ihrem Ende heute erfreulicherweise nicht mehr nur für Mauer, Stasi und Mangelwirtschaft, sondern auch für einen Staat, der es ernst meinte mit einem anderen, zukunftssicheren Deutschland.

Begonnen, als Golzow noch in der DDR lag, überlebte unsere Chronik die Zeitenwende, weil ein inzwischen großes Publikum fragt, wie es mit den Kindern, die nun auch schon Rentner sind, im vereinten Deutschland weiterging. Um das Golzow-Projekt zu realisieren und über die Zeiten zu bringen, bedurfte es keiner Kunst. Eher war es ein Kunststück, bei dem das Geld der neue Zensor war. Es in 46 Jahren vollbracht und bis heute nahezu 60 Jahre am Leben gehalten zu haben, macht Barbara und mich im achten bzw. neunten Lebensjahrzehnt froh.

Der Dokumentarfilmer Winfried Junge drehte zusammen mit seiner Frau Barbara Junge von 1961 bis 2007 die längste Dokumentaton der Welt: »Die Kinder von Golzow«. Darin geht es um die Entwicklung junger Menschen aus dem brandenburgischen Dorf Golzow vom Kindes- bis zum Erwachsenenalter - in zwei politischen Systemen, wie sich dann herausstellte. Zum Tag der deutschen Vereinigung am 3. Oktober 1990 wurde Winfried Junge für das Radiostudio Antenne Brandenburg um ein Statement gebeten. Wir veröffentlichen es hier mit einem aktuellen Nachwort - zum 7. Oktober, dem Gründungstag der Republik, die es nicht mehr gibt.

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