nd-aktuell.de / 10.10.2020 / Kultur / Seite 16

Hinterm Blasebalg hängt Joe

Der Klangwechsel beim John-Cage-Orgel-Projekt ist ein meditatives Happening

Gabriele Summen

Wir befinden uns im Jahre 2020 n. Chr. Ganz Deutschland ist von Zeitdieben besetzt. Ganz Deutschland? Nein! Ein von ein paar unbeugsamen John-Cage-Fans bevölkertes Städtchen hört nicht auf, den Zeitdieben Widerstand zu leisten. Die Rede ist von Halberstadt in Sachsen-Anhalt, Tor zum Harz, berühmt für seine Halberstädter Würstchen und leider in der Vergangenheit auch immer wieder als Neonazi-Hotspot in den Schlagzeilen. Doch es gibt auch noch eine andere Seite dieser typisch deutschen Kleinstadt. Zwischen Fachwerkhäusern und Plattenbauten befindet sich das fast 1000 Jahre alte, verwitterte Burchardi-Kloster, das nach der Säkularisation bereits als Scheune, Schnapsbrennerei und Schweinestall diente. Seit zwanzig Jahren beherbergt es die bescheidenste und zugleich spektakulärste Miniatur-Orgel der Welt, die Tag und Nacht erklingt. 24 Stunden am Tag, sieben Tage die Woche, 365 Tage im Jahr. Und das soll sie möglichst 639 Jahre lang tun.

Weil sich einige übermüdete Nachbarn beschwerten, wird allerdings seit einigen Jahren eine Plastikhaube über die Orgel gestülpt. Nur zu besonderen Anlässen nicht - wie beim letzten Klangwechsel im September. Dieses eigentlich unspektakuläre Ereignis des Hinzufügens oder Wegnehmens von ein paar Orgelpfeifen wird von den Medien und Hunderten Menschen stets gefeiert. Gespielt wird John Cages Stück »ORGAN²/ASLSP«. Er hat es mit einem Zufallsgenerator komponiert. Laut Cage ist »der Zufall ein Sprung über die Reichweite des eignen Selbst hinaus«. Die Spielanweisung des Musikanarchisten lautet »As Slow as Possible«. Bei der ersten Aufführung von Gerd Zacher im Jahr 1987 in Metz dauerte das Stück gerade mal eine knappe halbe Stunde.

In der zugigen Kirche ersetzen putzige Sandsäckchen, die die hölzernen Tasten dauerhaft herunterdrücken, den Organisten, ein elektrischer Blasebalg hält den Ton. So erklang beispielsweise der letzte Akkord ganze sieben Jahre. Vermutlich ganz im Geist von Cage, der sagte, er »verstehe nicht, warum Leute Angst vor neuen Ideen haben. Ich habe Angst vor den alten.«

Deshalb beschlossen Teilnehmer einer Tagung für Neue Orgelmusik 1998 in Trossingen, Cage beim Wort zu nehmen und die Partitur einfach auf die ungefähre Lebensdauer einer Orgel auszudehnen. Sie kamen bei ihren Berechnungen letztlich auf 639 Jahre, indem sie vom geplanten Startjahr des Projekts, dem Jahr 2000, einfach das Jahr 1361 abzogen. Nachdem die Trossinger Truppe nämlich über private Kontakte die leer stehende Burchardi-Kirche für das Projekt zur Verfügung gestellt bekommen hatte, stellte sie entzückt fest, dass im Halberstädter Dom 1361 vermutlich die erste Großorgel mit einer zwölftönigen Klaviatur eingeweiht wurde. Die Wiege der modernen Musik stand also womöglich genau hier.

Wie im Maschinenraum oder im Hamburger Hafen dröhne es in der Klosterkirche, sagt der Halberstädter Kuratoriumsvorsitzende Rainer O. Neugebauer, ein Sozialwissenschaftler mit alttestamentarischem Bart. Cage hätte gesagt: »Sie müssen es nicht für Musik halten, wenn dieser Ausdruck sie schockiert.« Menschen aus aller Welt pilgern hierher, lauschen stundenlang dem Dauerton in der Kirche oder kommen zum Klangwechsel - wie in diesem Jahr, in dem zwei junge Musiker zwei weitere Orgelpfeifen hinzufügen.

Über ein Menschenleben hinaus

»Die meisten Besucher sind fasziniert von der zeitlichen Dimension unseres Projektes«, erzählt der Sozialwissenschaftler Neugebauer. »Es geht über ein Menschenleben hinaus, es vermittelt Entschleunigung, Ruhe, Geduld und für manche ein Gefühl von Ewigkeit. Musikalische Kenner können sich auf Klänge konzentrieren, ganz im Sinne von Cage, und ihnen im Raum nachlauschen, wie sonst nirgends.«

Ich bin in diesem Jahr zum dritten Mal dabei, 2003 kam ich frisch verliebt mit meinem heutigen Mann zum ersten Akkord - das Stück begann am 5. September 2001 nämlich mit der einzigen Pause des Stücks, die 17 Monate währte. Für den Zen-Anhänger Cage war »Stille im Wesentlichen das Aufgeben jeglicher Absicht«. In den folgenden Jahren wurden große Demos der rechten Szene von engagierten Bürgern in Halberstadt in ihre Schranken verwiesen, das Atomkraftwerk in Fukushima havarierte, der NSU flog auf und Barack Obama wurde US-Präsident.

2013 stand ich - dieses Mal mit unserer inzwischen siebenjährigen Tochter - wieder im Regen mit 1500 anderen Cage-Anhängern und Neugierigen vor den Toren der Kirche und wartete entspannt darauf, eingelassen zu werden. »Wenn wir die Welt von unseren Schultern nehmen, bemerken wir, dass sie nicht fällt«, schrieb Cage einmal. Erst jetzt, da ich älter geworden bin, löst dieser Satz von ihm keine Schuldgefühle mehr in mir aus. Terroranschläge in Berlin und anderswo folgten, mehr und mehr Asylsuchende flohen verzweifelt nach Europa, der Himmel schickte uns die Klimaaktivistin Greta Thunberg und ein Narzisst wurde Präsident der USA.

2020 stehe ich also wieder gemeinsam mit meinem Mann, Journalistenkollegen und 200 Spendern für das Projekt beim 14. Klangwechsel in der Kirche. Weitere 600 Zuschauer verfolgen das Ereignis draußen auf einer Videoleinwand - eine Pandemie hat die Welt inzwischen zu einem anderen Ort gemacht.

Was sind das für Menschen, die ein Projekt planen, von dem keiner weiß, ob es jemals ein Ende findet? Wo gibt es in unserer heutigen Zeit überhaupt noch solche Optimisten? Und wo gibt es heute noch Menschen, die ein Projekt ins Leben rufen, bei dem unterm Strich kein Gewinn rumkommt? Diese Fragen stellte sich Margot Dannenberg, als sie am 5. September 2001 die Zeitung aufschlug und von dem Projekt in der Klosterkirche las. Die heute 71-Jährige erinnert sich, dass sie damals gerade in »Die Säulen der Erde« von Ken Follett vertieft war und sogleich eine Parallele zu den Erbauern der Kathedrale in dem Roman sah. Sie war »hin und weg«.

Kurz darauf erhielt sie einen Anruf von der Agentur für Arbeit. Ob sie schon einmal vom Cage-Projekt gehört habe? Für dies suche die dazugehörige John-Cage-Orgel-Stiftung Halberstadt eine »Frau für alles«. Am Ende bekam die ehemalige Chefsekretärin Margot Dannenberg, die sich zu DDR-Zeiten als gläubige Christin stets standhaft gewehrt hatte, in die SED einzutreten, die Stelle. Obwohl sie kein Englisch und keine Noten konnte. Allein ihre tief empfundene Begeisterung überzeugte die Stifter.

Jahr um Jahr hielt sie die Stellung auf dem Klostergelände, kümmerte sich um den Bürokram und alle andere Dinge, die anfielen, und ließ Besucher in die Kirche. Die resolute Frau fuhr nicht in den Urlaub und war so gut wie nie krank. Es gab einfach keinen Ersatz für sie. Und Dannenberg hat jeden Tag hier genossen. »Sonst musste ich immer nach der Pfeife der Chefs tanzen.« Hier war endlich Eigeninitiative gefragt. »I’m for the bird not the cages«, lautet der wohl berühmteste Spruch Cages. »Die Begegnungen mit Menschen aus aller Welt haben mir so viel gegeben, deshalb arbeite ich auch heute noch ehrenamtlich mit«, erzählt Dannenberg.

Spenden aus aller Welt

Da wäre zum Beispiel der junge Lehrer aus Jena, der seit 2003 mit seiner Musikklasse hierher kommt. Bis Mitternacht, im Schein von flackernden Kerzen, arbeitet er jedes Jahr mit seinen Schülern in der Kirche an Projekten zur zeitgenössischen Musik. Oder Joe aus Neuseeland, der unbedingt eine der 639 Jahrestafeln kaufen wollte, die das Projekt bislang mitfinanziert haben und im Innern der Kirche hängen. Als er schließlich eines Tages ergriffen vor seiner Tafel stand, hätten sie und der zwei Meter große Mann sich endlich persönlich kennengelernt und spontan »umärmelt«. »Hinter’m Blasebalg hängt Joe«, sagt Dannenberg.

Einmal, an einem zweiten Weihnachtsfeiertag gab es einen schlimmen Wasserrohrbruch im Cage-Haus, wo die Stiftung residiert. Das Wasser lief die Treppen herunter, die Lehmdecken kamen herunter, es musste alles ausgepumpt werden. Sie habe große Angst gehabt, dass dies das Ende des Projekts bedeutete. »Ich dachte, das könne man nicht mehr reparieren, das reicht finanziell nicht hinten und nicht vorne. Ich war so fertig, ich dachte, ich sterbe.«

Niemand wisse, »was hier in den restlichen 630 Jahren noch alles passieren kann«, sagt der mittlerweile herbeigeeilte Neugebauer. Das Projekt, für das jährlich mittlerweile 150 000 Euro Spenden eingetrieben werden müssen, lief weiter. Ihre Weihnachtsgans hat Frau Dannenberg dann allerdings erst zu Ostern verspeist, weil so viel zu tun war - und es so, als kleines Rädchen im Getriebe, vielen Menschen aus aller Welt ermöglicht, weiter nach Halberstadt zu pilgern, um dem Klang der kleinen Ewigkeit zu lauschen.

Ich werde wiederkommen. Die heilsame Entschleunigung, die man dort erfährt, hilft dabei, an der Utopie einer besseren Welt festzuhalten. Auch wenn ich die ganze Melodie der Weltgeschichte niemals werde hören können.