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  • Corona und soziale Folgen

Die magische 50

Der derzeit zentrale Grenzwert bei den Corona-Neuinfektionen ist eine politische Zahl - und veränderbar

  • Ulrike Henning
  • Lesedauer: 4 Min.

In Deutschland steigen die Corona-Fallzahlen rasant. Nach Angaben des Robert-Koch-Instituts (RKI) gab es am Freitag zwölf »Corona-Hotspots«. Zwei Landkreise, fünf Städte und vier Berliner Stadtbezirke überschritten demnach die vorgegebene rote Linie. Laut Berliner Senat wird der Grenzwert mittlerweile sogar in der Stadt insgesamt überschritten. Das gleiche gilt auch für Frankfurt am Main. In all diesen Regionen und Kommunen wurden mehr als 50 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner im Zeitraum der vergangenen sieben Tage gemeldet.

Die aktuell als Maßstab angesetzte Sieben-Tage-Inzidenz von 50 gilt seit dem 6. Mai als wichtiger Grenzwert für Pandemie-Maßnahmen in Sachen Corona. Diese können verschärft werden, wenn die Marke von 50 in einem Landkreis oder einer Kommune überschritten wird. Schon kurz nach der Festlegung wurden kritische Stimmen laut: Die Grenze sei zu hoch, nicht praktikabel und könne einen Kontrollverlust nicht verhindern. Die Größe der Landkreise, ihre Einwohnerdichte, Altersstruktur und Testintensität spielten keine Rolle bei der Maßgabe. Falsche Reaktionen seien darum absehbar.

Diese Vorhersage scheint sich momentan zu bestätigen. Das Kanzleramt wollte im Mai eine Obergrenze von 35 aushandeln, die Länderchefs setzten sich aber durch und hoben die Zahl auf 50 an. Bei der Entscheidung wurden weder das RKI noch sonstige wissenschaftliche Expertise einbezogen, obwohl die Bundesregierung sich vorher hatte beraten lassen. Eine Obergrenze von 35 Neuinfektionen schien aus damaliger Sicht gut begründet, denn diese Fallzahl hätte von den Gesundheitsämtern noch mit Anrufen und manuell geführten Excel-Tabellen verfolgt werden können.

Der Bundesverband der Ärzte des Öffentlichen Gesundheitsdienstes hatte gleich nach der Entscheidung gewarnt, dass 50 Neuinfektionen weit über den Kapazitäten der Gesundheitsämter liegen würden. Schon vor dieser Festlegung sei die Arbeit nur geschafft worden, weil Aushilfen den Personalbestand mindestens verdreifacht hatten. Bei der Entscheidung für den Grenzwert 50 spielte auch die Hoffnung auf die Corona-App eine Rolle, deren Anteil an einer besseren Kontaktverfolgung bis jetzt aber eher bescheiden erscheint.

Bei der Festlegung auf 50 Neuinfizierte sind aus Sicht von Epidemiologen verschiedene Parameter berücksichtigt worden, vermutlich aber nicht angemessen. Hervorgehoben wurde auch hier die Kapazität des Gesundheitssystems. Diese umfasst nicht nur die Zahl der Intensivbetten, sondern auch die der Mitarbeiter in Gesundheitsämtern. Die Deutsche Gesellschaft für Epidemiologie sah Nachverfolgungs- und Testkapazitäten im Frühjahr noch als wichtigste Faktoren gegen einen starken Anstieg der Zahl von Neuerkrankten. Davon sollten Lockerungen in den Regionen abhängig gemacht werden, hieß es.

Bei den jetzigen Steigerungsraten der neu positiv Getesteten ist die erhoffte Übersicht weitgehend verloren gegangen - lokal und regional schon lange zuvor. Teils ist das Folge höherer Testzahlen sowie der nicht möglichen Kontrolle darüber, ob Infizierte die nötige Quarantäne wirklich einhalten. Lokale Ausbrüche in Schlachthöfen oder Pflegeheimen waren einfacher einzudämmen, scheint es, als die diffuse Ausbreitung in Großstädten wie Berlin, über deren Ursachen es auch eher Ahnungen als Gewissheit gibt.

Unter diesen Umständen bleibt der Grenzwert ein politischer Kompromiss. Rein wissenschaftlich ist er auch nach einigen Monaten Pandemie nicht zu begründen. Das heißt zugleich, dass dieser Grenzwert geändert und angepasst werden kann. Schon im Mai taten das mehrere Bundesländer und gingen auf 30 bis 35 Neuinfektionen als Grenzwert für ihre Frühwarnsysteme.

Jetzt plädierte auch Stefan Willich, Direktor des Instituts für Virologie an der Berliner Charité, für ein Umdenken. Bereits im Mai sei der Schwellenwert von 50 Neuinfektionen nur ein grober Anhaltspunkt gewesen, sagte er dem RBB-Inforadio. Nach seinen Worten müssten sich die Zahlen auf repräsentative Stichproben beziehen. Doch mit diesen wird erst jetzt begonnen, unter anderem durch das RKI initiiert. Dann könnte eine neue Definition festgelegt werden, die zusammen unter anderem mit der Belegung der Intensivbetten angeschaut würde. Das entsprich in etwa dem Berliner Herangehen. Hier legte sich die Politik auf drei Ampeln fest: Die Sieben-Tage-Inzidenz bei den Neuinfektionen, der Vier-Tage-R-Wert (diese Reproduktionszahl gibt an, wie viele weitere Personen im Mittel von einer infizierten Person angesteckt werden) und der Anteil der für Covid-19-Patienten benötigten Plätze auf Intensivstationen.

Grafiken: Die aktuellen Covid19-Zahlen für Deutschland

Es ist also absehbar, dass allein eine Neudefinition des Grenzwertes nicht ausreicht. Ein solcher einzelner Wert ist allerdings für die Politik besonders verführerisch, weil er Entscheidungen vereinfacht - was diese nicht unbedingt besser macht.

Die Hoffnung auf einen rationalen und effektiven Umgang mit dem tatsächlichen Erkrankungsgeschehen sollten nicht zu hoch geschraubt werden. Hinter dem jetzt zunehmenden Gehacke um die Ansteckungsgrenzwerte scheint bereits das Wahljahr 2021 auf.

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