• Kultur
  • Beilage zur Buchmesse Frankfurt Main

Die geschmähte Alternative

Thomas Kacza legt eine einfühlsame Geschichte der DDR vor

  • Stefan Bollinger
  • Lesedauer: 5 Min.

Differenziert auf den verschwundenen (ost)deutschen Staat zu blicken, ohne die gängigen Klischees von Stasi, Mauer und Stacheldraht wiederzukäuen - das ist auch 30 Jahre nach dem Ende der DDR beileibe nicht selbstverständlich.

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Thomas Kacza: Die gescheiterte Alternative. Die DDR von Anfang bis Ende.
Nora, 654 S., br., 29 €.

Thomas Kacza, 1951 in Mecklenburg geborener Historiker, bislang mit Arbeiten zur antikolonialen Geschichte des jüngeren Afrika und zu Albanien hervorgetreten, hat sich der Aufgabe mit Bravour gestellt. Sein voluminöses Werk, das ein pralles Panorama Geschichte entfaltet, dürfte nicht nur für den Laien, wie der Autor hofft, sondern auch für Fachhistoriker und alle jene erkenntnisreich und anregend sein, die Geschichtsklitterei satthaben. Der Autor weiß, dass er gegen übervolle Regale und Videosammlungen anschreibt: »Nun, wer das Material sichtet, bekommt den Eindruck, dass die Geschichte der DDR verschlissen wird zwischen Verdammung und Nostalgie, wobei zweifellos solche politikhistorischen Darstellungen dominieren, die eine Abrechnung mit der DDR bezwecken, um sie, wie es Stefan Heym sah, lediglich zu einer ›Fußnote der Weltgeschichte‹ zu machen.«

Sechs Kapitel beleuchten Werden, Wachsen und Untergehen der DDR. Wohlweislich wird auf die gängige Zweiteilung der 40 Jahre ihrer Existenz in eine Ulbricht- und eine Honecker-Ära verzichtet. Der Autor zeigt die jeweilige Spezifik der Jahrzehnte und beleuchtet die facettenreichen, widersprüchlichen politischen, gesellschaftlichen und bedingt auch sozialen Prozesse. Sein Anspruch, »in stetem Wechsel Positives und Negatives« zu berichten, ist originell, übersieht allerdings, dass viele Entwicklungen zwiespältig waren. Etwa dass das Versprechen einer gerechten Gesellschaft in Zeiten harter, auch zwischenstaatlicher Klassenkämpfe auch mit wenig demokratischen Maßnahmen zwecks politischer Stabilisierung erkauft wurde. Dies zu kritisieren, ist unbedingt notwendig. Selbst wenn dies oft nicht subjektiver Unvernunft und Machtgier entsprang, sondern verhängnisvollen Zwängen.

Letztlich bleibt des Autors Urteil unentschieden, obwohl er gute Argumente für den sozialistischen Staat findet: »Die DDR war nicht gut, sie war nicht schlecht, sie war, wie sie gewesen ist - widerspruchsvoll, mit für die Menschen ertragreichen wie gesellschaftlich fehlerhaften Entwicklungen.« Sogleich betont Kacza aber auch: »In ökonomischer, sozialer und kultureller Hinsicht sowie in etlichen Aspekten der Lebensweise und der zwischenmenschlichen Beziehungen bediente die DDR reale Interessen ihrer Bürgerinnen und Bürger. Das Maß an sozialer Gerechtigkeit war dort entschieden höher als in der heutigen Bundesrepublik.« Damit hat der Autor zweifellos recht.

Angesichts des Umfangs des Werkes, dem der Verlag dankenswerterweise ein Personenregister und eine recht umfangreiche Literaturliste spendierte, wären gliedernde Zwischenüberschriften hilfreich gewesen, ebenso ein Sachregister. Der Autor reklamiert, sich aus einer umfangreichen, vom totalitarismustheoretisch geschwängerten Mainstream abhebenden Literatur kritischer und analytischer Stimmen der Wissenschaft bedient zu haben, ergänzt um vielfältige Memoiren von DDR-Protagonisten. Bei dem reichlichen Angebot geht in seinem Buch allerdings - trotz oder wegen spannender, detaillierter Einzeldarstellungen, etwa zum Mauerbau oder zum Sturz Ulbrichts - oft der roten Faden verloren. Auch eingedenk der Tatsache, dass viele Fußnoten den Lesefluss stören und ein populärwissenschaftliches Werk im Gegensatz zu akademischen Schriften möglichst ohne solche auskommen sollte - viele vom Autor angeführten Fakten und Zitate wären glaubwürdiger, wenn nicht nur der Spezialist erahnt, wo und wie diese belegt sind. Kacza betont, dass es nicht nur um Meinungen und Gefühle geht, sondern um Fakten - die aber müssen belegt werden. Wichtig für jedes Streitgespräch wie für das Weitergeben einer guten Erzählung über ein gewesenes Land ist, exakt zu wissen, wer wann was gesagt, geschrieben oder getan hat.

Gesonderte Kapitel befassen sich mit dem ersten und dem letzten Jahr der DDR: 1949 und 1989. In beiden Kapiteln wie insgesamt fällt ein weniger dem Autor als generell der Geschichtsschreibung zur DDR anzukreidendes Defizit auf: Um diesen zweiten deutschen Staat zu verstehen, bedarf es einer Doppelbiografie, des Vergleichs mit dem anderen Deutschland, unter Einbeziehung der Feindschaft, Rivalitäten und Konkurrenz, gemeinsamer Herausforderungen und gegenseitiger Einflussnahmen direkt wie indirekt. Es ist generell zu fragen nach der Systemauseinandersetzung im Spannungsfeld von materiellen und sozialen Vor- oder Nachteilen sowie potenziellen Aufmarschgebieten für hochgerüstete Militärbündnisse der sich konträr gegenüberstehenden Blöcke.

Wer sich nicht vom Umfang des Werkes abschrecken lässt, der wird hier reichlich belohnt. Kaczas Buch ist eine Fundgrube von Einsichten und Erkenntnissen, die man andernorts nicht findet. Eine solide, tief lotende Darstellung der 40 Jahre DDR, von den hehren Versprechen und hoffnungsvollen Anfängen über überstandene und unbewältigte Krisen, von Reformversuchen bis hin zu Stagnation und Resignation, wobei der gescheiterte Aufbruch 1989/90 im Buch allerdings unterbelichtet bleibt.

Dem Urteil des Autors bereits in der Einleitung kann der Rezensent allerdings nicht zustimmen, zumal Kacza in seinem materialreichen Buch selbst viele potenzielle Entwicklungsmöglichkeiten und alternative Wege erörtert, so etwa das Neue Ökonomische System (NÖS) in den 60er Jahren, aber auch die Zeit der sowjetischen Perestroika: »Das DDR-System ist verdient gescheitert. Ihm wird hier die Rechnung seiner Versäumnisse, Verirrungen, seines Dilettantismus und seiner Durchtriebenheit nicht erspart.« Dem folgt dann noch einmal zur Bekräftigung wider Missverständnisse: »Jedoch dem hierzulande verordneten Geschichtsbild, das stark von einer ideologisierten Sicht des Siegers auf den Verlierer gefärbt ist, mag sich der Autor nicht anschließen.«

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