Ein Stehplatz für immer

Vor einem Jahr wurde Fußballfan Kevin S. von einem Rechtsradikalen erschossen. Stadt, Anhänger und Verein sind uneins, wie und wessen gedacht werden sollte

  • Fabian Hillebrand, Halle
  • Lesedauer: 5 Min.

So leer wie am vergangenen Freitag ist das Stadion des Halleschen FC nie. Das Crescendo einer Opernsängerin klingt aus den Boxen dort, wo sonst ein Stadionsprecher die Auswechslungen verkündet und die Vorsänger die Fankurve anpeitschen.

Der Anschlag von Halle, bei dem zwei Menschen starben, liegt genau ein Jahr zurück. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeiers Rede in der Ulrichskirche wird an verschiedenen Stellen in der Stadt übertragen. Auch im Fußballstadion. Denn getroffen hat es einen von ihnen. Etwa 30 Menschen haben sich hier eingefunden. Sie sehen aus, wie Fußballfans eben aussehen: Jeans-Kutten mit vielen Aufnähern, Tattoos und Zigaretten. Alle tragen rot: die Farben des Vereines.

Als die Tür der Synagoge in Halle am 9. Oktober 2020 standhielt und der versuchte Massenmord an Juden am Feiertag Jom Kippur misslang, hatte der Täter beschlossen, sich andere Opfer zu suchen. Getroffen hat es dann unter anderem Kevin S. In einem Imbiss wird er erschossen. Der 20-Jährige ist kein Jude, kein Linker, kein Islamist. Keiner von denen, gegen die der Täter Stephan B. an diesem Tag ins Feld gezogen war.

Der 20-jährige Kevin war Maler und Fußballfan. Auf Videos ist zu sehen, wie er lauthals singt: »Das ist das Land der Vollidioten, die denken, Heimatliebe ist gleich Staatsverrat. Wir sind keine Neonazis und keine Anarchisten, wir sind einfach gleich wie ihr, von hier.« Noch lieber als die Lieder von Freiwild singt er die Hymnen seinen Vereins: »Ich fahr für dich, egal wohin, Chemie du bist mein Lebenssinn.« Chemie Halle heißt längst Hallescher FC. Der Verein spielt in der dritten Liga. Teile der Fanszene sind für ihre rechten Einstellungen bekannt. Einmal hatten sie Scheiben eines asiatischen Imbisses angegriffen und »Jude« an die Wände gesprüht. Die Gruppierung »Saalefront« war in zahlreiche Verfahren verwickelt. Der Verein musste zudem häufig für seine Fans blechen. Viele haben mittlerweile Stadionverbot.

»Saalefront« stand auch kurz und knapp in dem Facebook-Profil von Kevin S. Ob er auch rechte Ideologien teilte, weiß man nicht. Ein Freund von ihm, der an diesem Abend im Stadion in Halle ist, sagt: »Der ist immer außen vor geblieben, wenn es Stress gab.«
Wie geht der Verein damit um, dass es einen von ihnen traf? Am Freitag wird im Stadion ein Altar eingeweiht. Dort, wo Kevin S. immer stand, während sein FC spielte, erinnern nun Blumen und eine goldene Plakette an das Anschlagsopfer. Er wird nun für immer einen Platz haben, nicht nur in den Herzen der Fans.

Eingeweiht haben das Denkmal Vereinspräsident Jens Rauschenbach und Kevins Vater. Er erinnere sich noch genau an das letzte Telefonat mit seinem Sohn, sagt der 44-jährige Gerüstbauer vor Kurzem vor Gericht im Prozess gegen den Täter aus. Kevin habe ihn gefragt, ob er in der Mittagspause einen Döner essen dürfe, obwohl die Mutter es verboten habe, aus Sorge um sein Gewicht. »Okay«, habe er gesagt, »hol dir deinen Döner, aber das ist diese Woche der letzte.«

Kevin S. hatte eine Behinderung. Ärzte sagten ihm eine Lebenserwartung von zehn Jahren voraus. Sein Vater hat das nie geglaubt. Der Sohn ergattert nach diversen Praktika eine Malerlehre. In den Fanszenen von Merseburg und Halle findet er Heimat, Freunde und Geborgenheit. »Sie haben ihn beschützt«, erzählt der Vater. Dass Kevin Freunde findet, allein zu Auswärtsspielen fährt, sich in eine Gemeinschaft einfügt, einen Ausbildungsplatz findet, all das hatten ihm viele zum Zeitpunkt seiner Diagnose nicht zugetraut. Einen Satz wiederholt der Vater immer wieder: »Ich war megastolz!«

Der Malerbetrieb, bei dem Kevin S. seine Ausbildung beginnt, ist nicht weit entfernt vom Kiez-Döner. Kurz nach dem Telefonat mit seinem Vater attackiert ein schwer bewaffneter Angreifer den Laden. Kevin S. flehte um sein Leben, es wurde ihm dennoch genommen. Am anderen Ende des Raumes, in dem er erschossen wurde, haben Trauernde einen Altar aufgebaut. Dort hängen rote Schals, Sticker und Wimpel. Auf einem Trikot stehen Unterschriften. Die Rückennummer: Zwei gekippte Achten. Unendlich. Sie werden ihn nicht vergessen.

Mehrere Fangruppen trudeln im Laufe des Jahrestages beim Imbiss ein, essen Döner. Es wird viel Bier getrunken und noch mehr geweint. Betreiber und Fans grüßen einander mit Handschlag. Trauer verbindet. Doch nebenher ist eine Spaltung spürbar. Auch viele sich als links verstehende Menschen sind hier. Sie telefonieren hektisch, um Gedenkaktionen vorzubereiten. Sie schreiben Redebeiträge für eine Kundgebung. Man beäugt einander – auch skeptisch. Würde man sich nachts begegnen, vielleicht würde eine Partei die Straßenseite wechseln.

Auch unter den Fans gibt es verschiedene Auffassungen zum Gedenken. Am Abend im Stadion steht eine kleine Gruppe am Rande des Geschehens. Einer von ihnen, mit kahl geschorenem Kopf und zwei großen Tunneln in den Ohren, ärgert sich: Den »angereisten Würdenträgern« ginge es vorrangig um die Synagoge, dabei seien die Opfer doch andere gewesen. Und die gelte es zu betrauern.

Ein anderer widerspricht vehement: Sie seien zwar die Opfer gewesen, aber der Anschlag hätte nun mal der Synagoge gegolten. Der Mann erzählt, er habe Jana L., das zweite Todesopfer, öfter getroffen. Kevin S. habe er nicht gekannt. Dass beide auf »feige Art« ermordet wurden, sei tragisch. »Aber es war ein antisemitischer Anschlag«, sagt er laut.

Beim nächsten Heimspiel will der Verein erneut den Opfern gedenken. An diesem Montag spielt das Team gegen Zwickau in einem Sondertrikot. »Nie wieder – gemeinsam gegen das Vergessen« soll dort stehen. Über die Form des Erinnerns streitet man in Halle, nicht nur in der Fankurve.

Eine junge Frau mit bunten Haaren löst sich aus der Gruppe der diskutierenden Fans. »Das sähe jetzt vielleicht anders aus, aber man habe hier die Lektion schon gelernt« sagt sie. Welche Lektion das sei? »Ach, das wissen Sie schon«, sagt sie und entschwindet in eine regnerische Nacht.

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