nd-aktuell.de / 15.10.2020 / Kultur / Seite 13

Das höchste Gut auf Erden

Effi Böhlke stellt Friedensnobelpreisträger Leon Bourgeois und sein Plädoyer für Solidarität vor

Karlen Vesper

Er hätte sich gefreut - über die Entscheidung des schwedischen Nobelpreiskomitees, den diesjährigen Friedensnobelpreis an das Welternährungsprogramm der Vereinten Nationen zu vergeben. Da haben sich Menschen dem Kampf gegen den Hunger weltweit mit Leib und Seele, Herz und Verstand verschrieben, keine Mühen scheuend, gar das eigene Leben riskierend. Begeben sie sich doch in Krisen- und Kriegsgebiete, die von skrupellosen Warlords oder allmachtsüchtigen Diktatoren kontrolliert werden. Diese uneigennützigen Menschen leisten alljährlich, alltäglich einen Beitrag, um dem »Ewigen Frieden«, wie er 1795 vom deutschen Philosoph der Aufklärung, Immanuel Kant, visioniert worden ist, ein Stückchen näher zu kommen. Sie bezeugen, dass Solidarität nicht nur nötig, sondern auch möglich ist - zu allen Zeiten, mögen sie noch so widrig und unwirtlich sein. Wie etwa derzeit, wo man gern soziale Kälte, Gleichgültigkeit und Ignoranz, »coronabedingt« entschuldigt.

Léon Victor Auguste Bourgeois, geboren 1851 in Paris, gestorben 1925, französischer Jurist und Politiker, hätte der UN-Welternährungsorganisation herzlichst gratuliert. Denn diese handelt ganz in seinem Sinne. Léon Bourgeois hat als einer der geistigen Väter des nach dem furchtbaren Völkergemetzel des Ersten Weltkrieges ins Leben gerufenen Völkerbundes sowie als dessen erster Präsident 1920 den Friedensnobelpreis erhalten. Sein Name dürfte der deutschen Öffentlichkeit kaum bekannt sein. Um so größeren Dank und Respekt verdient Effi Böhlke, die dessen bedeutsamstes Essay, ergänzt um weitere, zwischen 1896 und 1919 verfasste Texte, neu herausgegeben hat. »Solidarität. Von den Grundlagen dauerhaften Friedens« könnte man quasi als eine Fortsetzung von Kants »Zum ewigen Frieden« bezeichnen. Dem Franzosen wie dem Deutschen ging es um zwischenstaatliches und zwischenmenschliches Handeln nach Vernunftsprinzipien. Beiden galt Frieden als höchstes Gut auf Erden. In einem Vortrag über »Solidarität und Freiheit«, im Jahr 1900 gehalten, hat sich Bourgeois zudem bei seinen Auffassungen von Gleichheit und Gerechtigkeit explizit auf Kants Kategorischen Imperativ bezogen, wie die Editorin, promovierte Philosophin und wissenschaftliche Referentin der Rosa-Luxemburg-Stiftung Berlin, weiß.

Im ausführlichen Nachwort skizziert die Herausgeberin die Vita des in seinem Heimatland »naturgemäß einen höheren Bekanntheitsgrad« genießenden Staatsmannes: Sohn eines Uhrmachers mit republikanischen Ansichten, der nach einer Kaufmannslehre Rechtswissenschaften studiert und über das Eisenbahnwesen promoviert hat und eine unglaublich steile Karriere macht, zunächst auf kommunaler und schließlich auf nationaler Ebene: vom Pariser Polizeipräfekten über das Ministeramt für Inneres, für Volksbildung und Justiz schließlich zum Ministerpräsidenten des ersten linksdemokratischen Kabinetts Frankreichs 1895. Es ging Bourgois, so Effi Böhlke, immer primär um soziale Belange, um Sozialfürsorge für die schwächeren Glieder der Gesellschaft. Gleichzeitig beschäftigte ihn der Gedanke einer Societé des nations, dem späteren Völkerbund. Auf der 1. Haager Friedenskonferenz von 1899 setzte sich Bourgois für die Beilegung internationaler Konflikte mittels eines Schiedsgerichtes ein, das auf der 2. Haager Friedenskonferenz 1907 ins Leben gerufen wurde, womit ein Baustein für den heutigen Internationalen Schiedsgerichtshof in Den Haag gelegt ward. Im ersten Kriegsjahr des Ersten Weltkrieges, 1914, zum Außenminister avanciert, ist er noch intensiver in der entstehenden europäischen Friedensbewegung involviert. Effi Böhlke umrahmt die biografischen Notizen mit zeithistorischen Erläuterungen: Zweite Republik, Napoleon III. und das Zweite Kaiserreich, Deutsch-Französischer Krieg, Dritte Republik, Pariser Commune, Weltkrieg.

Die Editorin erläutert zentrale Begriffe bei Bourgeois, zuvörderst »Solidarität«: »Bourgeois geht davon aus, dass die Menschen grundsätzlich soziale Wesen sind, also nur in der und durch die Gesellschaft existieren können ... Ob sie wollen oder nicht: Zwischen den Individuen besteht eine ›natürliche‹ und insofern objektive Solidarität im Sinne ihrer unausweichlichen wechselseitigen Abhängigkeit voneinander.« Und diese gibt es auf diversen Ebenen, von der Familie über die Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe und Klasse bis hin zur nationalen Gesellschaft. Die objektive Solidarität sei unter unterschiedlichen Aspekten zu sehen, so unter - hochaktuell - biologisch-medizinischen (Ansteckungsgefahr/Epidemien), wirtschaftlichen (wechselseitige Abhängigkeit der Produzzenten und Konsumenten in einer arbeitsteilig organisierten Gesellschaft), sozialpolitische (wechselseitige Abhängigkeit der unterschiedlichen Klassen und Gruppen) sowie kulturelle (Notwendigkeit der Aneignung und des Austauschs kultureller Werte).

Effi Böhlke diskutiert den Begriff der Assoziation, Gesellschaft, in der ein wechselseitiges Geben und Nehmen herrsche. Ab-strakt betrachtet, wohl richtig. Aber wie wir wissen, ist es eher ein erzwungenes Geben der unteren und mittleren sozialen Schichten und dreistes, selbstverständliches Nehmen der Oberen, die bis dato alle (Klassen)Gesellschaften prägten - bis auf ein 70-jähriges Intermezzo in Mittel- und Osteuropa, von dem Bourgeois freilich nichts mehr mitbekommen hat.

Es soll hier eigener Lektüre des essenziellen Essays von Bourgois nicht vorgegriffen werden. Nur soviel noch: Effi Böhlke erörtert im Nachwort ebenso den Begriff der Schuld bei ihrem Protagonisten, dessen Vorstellungen vom »Gesellschaftsvertrag« (contrat social), den er mit Anti-Etatismus und Anti-Individualismus füllt, dabei zugleich gegen die Ansichten von Paul Lafargue, Marxens Schwiegersohn, polemisierend, »in welchen dem Staat eine zentrale Position beigemessen wird«. Vom liberalen Laissez-faire-Prinzip des Liberalismus hielt Bourgeois nichts. Solidarismus oder: Solidarität empfiehlt sich seiner Ansicht nach als Heilmittel (cure convenablee) gegen die sozialen Übel, (les maux sociaux). Bourgois war »kein Revolutionär im klassischen Sinne des Wortes, im Gegenteil: Die von ihm vorgeschlagenen Maßnahmen und institutionellen Arrangements zielen darauf ab, Aufstände, Bürgerkriege und Revolutionen zu verhindern. Dennoch ist in seinen Schriften immer wieder von Revolution die Rede«, bemerkt Effi Böhlke. Der Jurist vertraute lieber evolutionären Entwicklungen, setzte auf Transformation. Es werde, so war er überzeugt, »eine ganz neue Welt« entstehen. Und zwar auch dank der seinerzeit im Entstehen begriffenen internationalen Organisationen, wie den Völkerbund, deren Erbe die vor 75 Jahren in San Francisco gegründete UNO wurde.

Léon Bourgeois: Solidarität. Von den Grundlagen dauerhaften Friedens. Suhrkamp, 136 S., br., 17 €.