+++ Gericht kippt Berliner Sperrstunde, das Alkoholverbot bleibt +++

Der Newsblog zur Coronakrise - Freitag, 16. Oktober 2020: +++ Erneuter Rekordwert bei Coronavirus-Neuinfektionen +++ Gericht in Schleswig-Holstein lehnt Eilantrag gegen Beherbergungsverbot ab +++

  • Lesedauer: 8 Min.

Update 13.22 Uhr: Berlin. Nach nur einer Woche ist die Sperrstunde in Berlin womöglich vorerst wieder Geschichte. Das Verwaltungsgericht der Stadt erklärte am Freitag, die Sperrstunde halte einer rechtlichen Überprüfung nicht stand. Elf Gastronomen hatten sich dagegen gewandt und bekamen Recht. Sie dürfen nach dem Beschluss nun auch nach 23.00 Uhr öffnen, jedoch weiterhin ab diesem Zeitpunkt keinen Alkohol mehr ausschenken, wie ein Gerichtssprecher am Freitag sagte. Ob dies eingehalten wird, müssen nun die Behörden der Hauptstadt kontrollieren. Es ist zu erwarten, dass sich weitere Gastronomen auf den Beschluss berufen und länger öffnen.

Die Sperrstunde zwischen 23.00 Uhr und 6.00 Uhr galt seit vergangenem Samstag für Restaurants, Bars, Kneipen und die meisten Geschäfte. Der Senat hatte damit auf die deutlich gestiegenen Infektionszahlen reagiert. Dabei hatten sich Bund und Länder Berlin erst in dieser Woche zum Vorbild genommen: Sie vereinbarten am Mittwoch, dass es in Corona-Hotspots künftig generell eine Sperrstunde um 23.00 Uhr in der Gastronomie geben solle. Dies soll ab 50 Neuinfektionen pro 100 000 Einwohner in einer Woche gelten.

Es sei nicht ersichtlich, dass die Sperrstunde für eine nennenswerte Bekämpfung des Infektionsgeschehens erforderlich sei, begründete indes das Berliner Gericht seinen Beschluss. Es bezog sich auf das Robert Koch-Institut. Beobachtet worden seien demnach Fallhäufungen bei Feiern im Familien- und Freundeskreis, in Einrichtungen wie etwa Alten- und Pflegeheimen, Krankenhäusern und in Verbindung mit religiösen Veranstaltungen sowie Reisen.

»Auch die Gefahr einer alkoholbedingten «Enthemmung» nach 23.00 Uhr bestehe nicht«, zitiert eine Gerichtsmitteilung den Beschluss. Gastwirte könne nicht pauschal unterstellt werden, dass sie die Vorgaben nicht einhielten. »Allein die bessere Kontrollmöglichkeit einer Sperrstunde könne daher hier nicht zur Rechtfertigung der Maßnahme herangezogen werden.« Weil das Infektionsumfeld Gaststätte eine untergeordnete Bedeutung habe, sei die Sperrstundezudem ein unverhältnismäßiger Eingriff in die Berufsfreiheit. Gegen den Beschluss ist eine Beschwerde beim Oberverwaltungsgericht Berlin-Brandenburg möglich.

Gesundheitssenatorin Dilek Kalayci (SPD) sagte: »Mit dem Urteil bleibt das Alkoholverbot bestehen, das ist eine wichtige Botschaft. Wie wir weiter vorgehen, prüfen wir noch.« Nach Angaben von Rechtsanwalt Niko Härting hatten die Bar- und Clubbesitzer in ihren Anträgen die Sperrstunde als unverhältnismäßig kritisiert. Aus ihrer Sicht gab es keine überzeugende Begründung dafür. Die Sperrstunde führe dazu, dass sich junge Menschen dann an anderen Orten träfen, für die keine Hygienekonzepte gelten.

Lage »deutlich ernster« als während der ersten Corona-Welle

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Update 11.00 Uhr: Berlin. Die Bundesregierung geht von einem weiteren Anwachsen der ohnehin schon hohen Corona-Infektionszahlen aus. »Wir erwarten nicht, dass die Zahlen morgen geringer werden, sondern dass sie weiter steigen«, sagte Kanzleramtsminister Helge Braun (CDU) am Freitag den Sendern RTL und n-tv. Deutschland stehe »am Beginn einer wirklich großen zweiten Welle«, und diese Welle »müssen wir jetzt unterbrechen«, sagte Braun.

Die Lage sei derzeit »deutlich ernster« als während der ersten Corona-Welle im Frühjahr, sagte der Minister. »Jetzt merken wir, dass wir gerade in einem steilen Anstieg sind.« Wie hoch die Zahlen noch stiegen, hänge von den Maßnahmen ab, die nun ergriffen würden. »Wir müssen jetzt sehr entschieden handeln, weil sonst steigen sie immer weiter.« Braun forderte Kommunal- und Landespolitiker auf, schnell zu reagieren. Das Motto müsse lauten: »Vorsicht sofort!« Wenn in einem Landkreis die Infektionszahlen deutlich stiegen, müsse umgehend gehandelt werden - und zwar schon, bevor der Inzidenzwert die Schwelle von 50 Neuinfektionen binnen sieben Tagen pro 100.000 Einwohnern übersteige.

+++ Erneuter Rekordwert bei Coronavirus-Neuinfektionen +++

Berlin. Die Gesundheitsämter in Deutschland haben nach Angaben des Robert Koch-Instituts (RKI) vom Freitagmorgen 7334 neue Corona-Infektionen innerhalb eines Tages gemeldet. Am Vortag war mit 6638 neuen Fällen der bis dato höchste Wert seit Beginn der Pandemie in Deutschland registriert worden. In der vergangenen Woche meldete das RKI am Freitag 4516 Neuinfektionen. Die jetzigen Werte sind nur bedingt mit denen aus dem Frühjahr vergleichbar, weil mittlerweile wesentlich mehr getestet wird - und damit auch mehr Infektionen entdeckt werden. Die Zahl der mit dem neuartigen Coronavirus im Zusammenhang stehenden Todesfälle wuchs auf 9734 - das waren 24 mehr als am Vortag.

Bei den intensivmedizinisch behandelten Covid-19-Patienten zeichnet sich ein deutlicher Anstieg ab. Laut RKI-Lagebericht wurden am Donnerstag 655 Corona-Infizierte intensivmedizinisch behandelt, 329 davon wurden beatmet. Eine Woche zuvor (8.10.) hatte der Wert noch bei 487 (239 beatmet) gelegen, in der Woche davor (1.10.) bei 362 (193 beatmet). Rund 8700 Intensivbetten sind in Deutschland derzeit jedoch noch frei.

Seit Beginn der Corona-Krise haben sich nach RKI-Angaben mindestens 348.557 Menschen in Deutschland nachweislich mit dem Virus Sars-CoV-2 infiziert (Datenstand 16.10., 0.00 Uhr). Nach Schätzungen des RKI gibt es etwa 287.600 Genesene.

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Die Reproduktionszahl, kurz R-Wert, lag nach RKI-Schätzungen in Deutschland laut Lagebericht vom Donnerstag bei 1,08 (Vortag: 1,04). Das bedeutet, dass ein Infizierter im Mittel etwa einen weiteren Menschen ansteckt. Der R-Wert bildet jeweils das Infektionsgeschehen etwa eineinhalb Wochen zuvor ab.

Zudem gibt das RKI in seinem aktuellen Lagebericht ein sogenanntes Sieben-Tage-R an. Der Wert bezieht sich auf einen längeren Zeitraum und unterliegt daher weniger tagesaktuellen Schwankungen. Nach RKI-Schätzungen lag dieser Wert bei 1,22 (Vortag: 1,16). Er zeigt das Infektionsgeschehen von vor 8 bis 16 Tagen.

+++ Gericht in Schleswig-Holstein lehnt Eilantrag gegen Beherbergungsverbot ab +++

Schleswig. Das Schleswig-Holsteinische Oberverwaltungsgericht hat einen Eilantrag gegen das Beherbergungsverbot in dem Bundesland abgelehnt. Eine Familie aus dem Kreis Recklinghausen (Nordrhein-Westfalen), die ab Freitag auf Sylt Urlaub machen wollte, hatte den Antrag gestellt, wie das Gericht am Donnerstagabend mitteilte.

Würde der Vollzug des Beherbergungsverbotes jetzt ausgesetzt, könnten Menschen aus inländischen Risikogebieten zu touristischen Zwecken unkontrolliert nach Schleswig-Holstein kommen, hieß es in der Begründung der Richter. In Anbetracht der am Donnerstag veröffentlichten Zahlen über den Anstieg der Neuinfektionen könne dies zu Gefährdungen für das öffentliche Gesundheitswesen führen, »zumal eine Weiterverbreitung des Coronavirus oft unentdeckt und schwer kontrollierbar erfolge.«

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In Baden-Württemberg und Niedersachsen hatten Verwaltungsrichter das Verbot am Donnerstag für rechtswidrig erklärt. Die Richter in Schleswig betonten, angesichts des bundesweit rasanten Anstiegs der Infektionen sei die Landesregierung nicht gehalten, zu warten, bis sich die Situation in Schleswig-Holstein in ähnlicher Weise entwickele wie in den inländischen Risikogebieten. Bei einer Gesamtbetrachtung überwiege das Interesse der Gesamtbevölkerung am Schutz vor einer Weiterverbreitung des Coronavirus gegenüber den Interessen der antragstellenden Familie an einer touristischen Reise. Denn diese habe es in der Hand, durch einen negativen Corona-Test den Urlaub auf Sylt »zeitnah zu realisieren«. Der Testung sei finanziell zumutbar, so die Richter des 3. Senats.

+++ Polizeigewerkschaft für Absage von Castortransport +++

Biblis. Die Gewerkschaft der Polizei (GdP) fordert, den geplanten Castortransport von der Wiederaufbereitungsanlage im britischen Sellafield ins südhessische Zwischenlager Biblis abzusagen. »Wenn nun von der Polizei erwartet wird, dass sie die Corona-Auflagen und den Gesundheitsschutz stärker durchsetzen soll, dann ist es aus unserer Sicht nicht vereinbar, dass Anfang November ein Nukleartransport von der Polizei quer durch Deutschland begleitet werden soll«, sagte GdP-Vize Jörg Radek der Deutschen Presse-Agentur. »Dafür gibt es keinen zwingenden Grund.« Polizeikräfte, die dann zur Sicherung des Castortransportes im Einsatz wären, könne man nicht zeitgleich für den Infektionsschutz abstellen, sagte der GdP-Vize.

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Neben den Ordnungsämtern hilft auch die Polizei bei der Durchsetzung der Corona-Regeln. Bund und Länder wollen nach ihrem Beschluss vom Mittwoch zudem die Bundespolizei beim Gesundheitsschutz einsetzen. Der Transport der sechs Behälter mit hoch-radioaktivem Müll aus dem britischen Sellafield war zunächst für das Frühjahr geplant. Aufgrund der Corona-Pandemie wurde er im März aber auf unbestimmte Zeit verschoben. Das Bundesinnenministerium hielt den notwendigen Polizeieinsatz nicht für verantwortbar. Atomkraftgegner rechnen damit, dass der Transport etwa Anfang November im Hafen im niedersächsischen Nordenham ankommen wird.

Bei vergangenen Castortransporten waren Tausende Polizisten aus dem gesamten Bundesgebiet im Einsatz. Radek erwartet, das dies auch beim nächsten Transport wieder der Fall wäre. Er forderte eine Absage und betonte, der Gesundheitsschutz müsse Priorität haben - schließlich seien auch Polizistinnen und Polizisten von Ansteckung bedroht.

+++ Experte enttäuscht über neue Corona-Maßnahmen +++

Berlin. Der Leiter der Abteilung System Immunologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig hat sich enttäuscht über die Ergebnisse der Bund-Länder-Runde im Kampf gegen Corona geäußert. »Wir haben Zeichen, dass das Virus sich gerade unkontrolliert ausbreitet«, sagte Professor Michael Meyer-Hermann am Donnerstagabend im ZDF-»heute-journal«. Er habe deshalb am Mittwoch bei der Ministerpräsidentenkonferenz im Kanzleramt eine »große Warnung« ausgesprochen. »Die Maßnahmen, die erfolgt sind, sind nicht die, die ich mir erhofft hatte«, bedauerte Meyer-Hermann.

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Die Nachverfolgung der Infektionen könne vielerorts nicht mehr gewährleistet werden. »Die Bevölkerung muss einfach verstehen, dass es jetzt um die Wurst geht«, sagte der Experte. Die Menschen müssten Feste viel stärker einschränken und auf Reisen - wenn möglich - verzichten und konsequent Maske tragen. Der Professor zeigte kein Verständnis für Maskenmuffel. »Das ist doch eine kleine Mühe.« Die Alternative sei ein Lockdown, den viele kleine Unternehmen nicht überleben würden. Viel besser wäre es, wenn die Menschen einfach immer eine Maske aufsetzten, wenn sie aus dem Haus gingen, sagte Meyer-Hermann in den ARD-»Tagesthemen«.

Von einem Reiseverbot für Menschen aus sogenannten Hotspots würde der Infektionsforscher indes absehen. »Ich glaube, das ist ein Menschenrechtseingriff, der sehr radikal ist«, sagte Meyer-Hermann. Ein solcher Schritt müsse sehr gut überlegt sein. Er setze stattdessen auf Einsicht bei der Bevölkerung. Agenturen/nd

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