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Weil der Markt es nicht richtet

»Fratelli tutti« - die päpstliche Enzyklika kann man verstehen als Aufruf für eine plurale, transformative und menschenwürdige Ökonomik.

  • Sebastian Thieme
  • Lesedauer: 6 Min.

Mit »Fratelli tutti« hat Papst Franziskus seine zweite Sozialenzyklika der Öffentlichkeit vorgestellt. Die Enzyklika liest sich wie ein Rundgang durch die drängenden Probleme der Welt. Und diese umfassen unter anderem Themen wie Krieg, Todesstrafe, Konsumismus, Armut und Ungleichheit, Naturzerstörung und den Mangel an Dialog. Das klingt nach viel und mag vielleicht etwas verwirren, steht aber im Einklang mit dem von Franziskus erhobenen Anspruch einer ganzheitlichen Sicht auf die Dinge. Und diese Sicht wird letztlich durch die Bezugnahme auf die katholischen Sozialprinzipien (Menschenwürde, Solidarität, Subsidiarität, Gemeinwohl und Nachhaltigkeit) auch wieder geordnet. Dabei trumpft »Fratelli tutti« - wie Michael Ramminger im »nd« bereits feststellte - nicht mit der einen großen Überraschung auf: Alles, was dort enthalten ist, wurde bereits gesagt und geschrieben. Nichtsdestotrotz ist diese Enzyklika gerade deshalb lesenswert, weil sie die Kerngedanken dieser Texte pointiert, klar und abwägend zusammenfasst. Das zeigt sich vor allem bei Wirtschaftsthemen.

Zunächst ist dazu festzuhalten, dass sich »Fratelli tutti« durchaus »anti-kapitalistisch« lesen lässt. Das hat dem Text viel Kritik eingetragen. Zum Beispiel von der »FAZ«: »Die Kapitalismuskritik« des Papstes sei »ein Grund, aus der Kirche auszutreten«, wettert das Blatt. Laut Clemens Fuest, Chef des Münchner Wirtschaftsforschungsinstituts Ifo, »strotz der Text vor anti-marktwirtschaftlicher Ideologie und Fehleinschätzungen über Globalisierung und die Rolle von Privateigentum«. Fuest hält die Aussagen der Enzyklika sogar »für gefährlich, weil sie Menschen dazu verleiten kann, Diktatoren mit sozialistischen Heilsversprechen zu unterstützen«.

Marktwirtschaft ohne Magie

Allerdings taucht der Begriff »Kapitalismus« in der Schrift gar nicht auf. Und im Kern scheint eine solche Einordnung auch eine zu kurz gegriffene Vorstellung über die wirtschaftskritischen Teile der Enzyklika zu vermitteln. Denn Franziskus zeigt sich dort viel abwägender, als es das Schlagwort »Kapitalismuskritik« suggeriert. Ein näherer Blick auf »Fratelli tutti« entlarvt auf diese Weise viel von der Kritik beispielsweise der »FAZ« als haltlos-hilflose Polemik. So zum Beispiel das Klagen darüber, Franziskus hätte die »Soziale Marktwirtschaft« dort nicht erwähnt. Begrifflich stimmt das. Aber wer vor allem an die Konzeption einer Sozialen Marktwirtschaft nach einem ihrer Protagonisten, Alfred Müller-Armack, denkt, wird sehr wohl Anknüpfungspunkte in dieser Enzyklika finden. »Der Markt« war auch für den Ökonomen Müller-Armack kein Selbstzweck, sondern ein Automat, der bedient werden muss. Außerdem wehrte er sich dagegen, in die Marktwirtschaft magische Gleichgewichtskräfte »hineinzugeheimnissen«. Und wer Müller-Armacks »Soziale Irenik« als Kernstück seiner offenen Stilidee einer Sozialen Marktwirtschaft versteht, wird hoch erfreut darüber sein, welche große Bedeutung dem Dialog in »Fratelli tutti« beigemessen wird. Inhaltlich gibt es also durchaus Überschneidungen mit der Sozialen Marktwirtschaft nach Müller-Armack.

Jedenfalls lässt sich die Enzyklika als Aufruf verstehen, »unser« Wirtschaften deutlich und entschieden an der Menschenwürde, an Solidarität, Subsidiarität und am Dienst gegenüber den Armen auszurichten. Es ginge also um eine humane Rahmenordnung des Wirtschaftens, wie sie auch als Soziale Marktwirtschaft denkbar wäre und auch von »Ordoliberalen« vertreten werden kann.

Erde für alle

Das betrifft zum Beispiel die Eigentumsordnung. Dieser liegt laut Franziskus - mit Verweis auf die Enzyklika »Centesimus annus« von Papst Johannes Paul II. aus dem Jahr 1991 - die Vorstellung der gemeinsamen Bestimmung der Güter zugrunde, wonach »die Erde dem ganzen Menschengeschlecht geschenkt (wurde), ohne jemanden auszuschließen oder zu bevorzugen, auf dass sie alle seine Mitglieder ernähre«. Das Recht auf Privatbesitz, so betont der Papst mit Verweis auf seine Umweltenzyklika »Laudato si‘« von 2015, sei in der christlichen Tradition »niemals als absolut und unveräußerlich anerkannt« gewesen, sondern es wurde stattdessen »die soziale Funktion jeder Form von Privatbesitz betont«. Das Recht auf Privatbesitz sei deshalb »nur als ein sekundäres Naturrecht« zu betrachten. Privatbesitz sei immer sozialpflichtig, das heißt am Gemeinwohl zu orientieren. Deshalb sei sicherzustellen, dass das Recht auf Privatbesitz kein Privileg zu Lasten Dritter darstelle. Privatbesitz dürfe nicht dazu führen, dass andere in ihrer Würde verletzt und ihnen angemessene Möglichkeiten zur Entwicklung genommen werden. In Anlehnung an die Politologin Sabine Nuss lässt sich deshalb formulieren, dass Privatbesitz nicht als Recht auf Verantwortungslosigkeit misszuverstehen ist. Und das hat praktische Konsequenzen, wenn es zum Beispiel um die Spekulation mit Wohnraum geht. Franziskus selbst führt später in »Fratelli tutti« die Spekulation mit Lebensmitteln und deren Vernichtung an.

Es gibt aber noch einen weitaus wichtigeren Punkt, den Franziskus immer wieder zur Sprache bringt: die Menschenwürde. Diese steht - das stellt Franziskus unmissverständlich klar - jedem Menschen zu, und zwar auch jenen, die wenig leisten oder mit Behinderungen leben. Das ist der zentrale Punkt, um die Kritik von Franziskus an »unserer« Wirtschaftsform zu verstehen. Franziskus ist nämlich nicht generell gegen Wirtschaft oder »Märkte«, geißelt aber entschieden die wirtschaftlichen Praktiken, die die Menschenwürde verletzen, indem sie zum Beispiel aus Gründen des Profits die Ausbeutung von Menschen billigen oder Menschen verdinglichen.

Franziskus moniert in diesem Zusammenhang auch sehr deutlich »das Dogma des neoliberalen Credos«, wonach gesellschaftliche Probleme ausschließlich durch den »Markt« zu lösen wären. Adressiert wird dazu unter anderem der Glaube an den Trickle-down-Mythos, gemäß dem nur der Wohlstand der Reichen genährt werden bräuchte, weil dieser am Ende auch den Ärmsten zugute käme.

Politik, die Arme einschließt

Damit richtet sich der Papst auch an die Wirtschaftswissenschaft. Aus der Perspektive einer Pluralen Ökonomik liest sich seine Kritik an den »kleinkarierten und monochromatischen Wirtschaftstheorien« wie die Aufforderung zu einer transformativen Sozialökonomik, jenseits von mathematischen Gleichgewichtsmodellen für Märkte, die von rationalen Nutzenmaximierern bevölkert werden. Gemeint wäre damit ein wirtschaftstheoretischer Zugang, der zu einer Sozial- und Wirtschaftspolitik befähigt, die es versteht, verschiedene Perspektiven zu berücksichtigen, besonders aber die Erfahrung und Perspektive der Armen in partizipativer Weise aufzunehmen und Politik mit den Armen zu gestalten.

In der Summe liegt es damit auf der Hand, warum »markt-liberale« Kommentatoren und Mainstream-Ökonomen erhebliche Probleme mit »Fratelli tutti« haben: Franziskus spricht wirtschaftliche sowie mainstream-ökonomische Verfehlungen an und weist wirtschaftstheoretisch in eine Richtung, die am Besten mit »Pluraler Ökonomik« und »transformativer Wirtschaftswissenschaft« umschrieben wäre. Insofern dürften vor allem Economists4Future und Forschende, die der Pluralen Ökonomik nahe stehen und/oder im Bereich Wirtschaftsethik arbeiten, viele interessante Anknüpfungspunkte in »Fratelli tutti« finden und diese Enzyklika deshalb positiv aufnehmen. Darüber hinaus ist es ein nicht zu unterschätzendes Verdienst der Schrift, auch wirtschaftliche Fragen ganz entschieden an der Achtung der Menschenwürde zu messen. Dass dies keine Selbstverständlichkeit ist, das lässt sich an vielen ökonomischen Lehrbüchern studieren. Dieser Umstand sollte auch Mainstream-Ökonominnen und -Ökonomen zu denken geben.

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