nd-aktuell.de / 17.10.2020 / Wirtschaft und Umwelt / Seite 27

Lebende Hindernisse

Fachleute erklären am Beispiel der Zauneidechse, wie geschützte Arten bei Bauvorhaben in Sicherheit gebracht werden sollen

Benjamin Haerdle

Feldhamster, Wachtelkönig oder Juchtenkäfer sind bei Kommunen und privaten Bauträgern oft schlecht gelitten - sie gelten gerne als Verhinderer des Fortschritts. Welchen Ruf hat die Zauneidechse?

Kösling:

Die Zauneidechse ist in diesen Kreisen nicht sonderlich beliebt, sie gilt vielen als »Baustopper«. Die Art lebt gerne in Steinhaufen, deswegen ist sie zum Beispiel bei der Deutschen Bahn bei jedem Bauvorhaben ein Thema.

Warum muss sie, wie jetzt zum Beispiel auch für den Bau der Tesla-Fabrik in Brandenburg, überhaupt umgesiedelt werden?

Ortlieb:

Die Zauneidechse ist laut Bundesartenschutzverordnung streng geschützt und im Anhang IV der FFH-Richtlinie der Europäischen Union gelistet. Damit ist es verboten, sie zu töten, ihre Lebensräume zu beschädigen oder zu zerstören. Das Problem bei Bauprojekten ist, dass die Art sehr ortstreu ist und ihr Habitat nicht verlassen wird. Sie besiedelt Flächen, für die sich lange Zeit niemand interessierte, wie etwa Bahnhofsgelände, Brachen oder alte Industriegebiete. Genau diese Flächen sind jetzt aber in Zeiten des Baubooms besonders betroffen. Man muss die Eidechsen also häufig umsiedeln.

Weil man sie oft in Siedlungsnähe sieht, entsteht der Eindruck, sie komme häufig vor.

Ortlieb:

Bei manchen Vorhabenträgern wie der Bahn gilt sie in der Tat quasi als Haustier, aber abseits solcher Sonderstandorte ist sie stark rückläufig. Ihre natürlichen Lebensräume, etwa Waldränder, Heckenlandschaften oder Ackerraine, sind seltener geworden. Deswegen steht sie in Deutschland auf der Roten Liste.

Umsiedeln hört sich schlicht an: Eidechsen fangen und anderswo aussetzen. Wie gehen Sie bei den Fangaktionen vor?

Ortlieb:

Wir arbeiten entweder mit Schutzzäunen, die mit Sammeleimern versehen sind, oder wir fangen sie mit der Hand, teilweise auch mithilfe von künstlich Verstecken. Manchmal wissen wir durch Kartierungen vor Ort, wo sich die Tiere auf der Fläche aufhalten. Falls wir das nicht wissen, wird die Suche unter Umständen deutlich aufwendiger.

Das braucht Zeit.

Ortlieb:

Es gibt kein Vorhaben, bei dem wenige Wochen ausreichen. Im Zuge einer von uns begleiteten Bachelor-Arbeit wurden dazu Daten empirisch ausgewertet und festgestellt, dass etwa 110 Personenstunden pro Hektar nötig sind, um ausreichend viele Tiere zu sammeln. Wenn man bedenkt, dass manche Flächen sehr groß sind, kann das dauern.

Ist eine Fläche überhaupt »zauneidechsenfrei« zu bekommen?

Ortlieb:

Nein, nicht zu 100 Prozent. Laut Rechtsprechung zum Bundesnaturschutzgesetz sind rund 80 bis 90 Prozent das Ziel. Die Fachliteratur geht davon aus, dass man zwei bis drei Jahre braucht, um eine Fläche freizufangen.

Die Zeit haben Sie in der Praxis doch nicht.

Kösling:

Richtig, das findet im Alltag so gut wie nie statt. Ob der Abfang fertig ist, lässt sich kaum messen. Häufige Praxis ist, dass die zuständige Naturschutzbehörde drei Termine ohne Sichtung vorgibt und die Fläche daraufhin als eidechsenfrei gilt. Sicher wissen wir es aber nie, zumal häufig erst der Herbst die Sichtungen beendet.

Wichtig für das Überleben der Tiere ist das passende Ersatzbiotop. Wie muss das aussehen?

Ortlieb:

Es kling banal, aber entscheidend ist, dass die Aussetzungsfläche geeignet ist. In der Praxis werden Tiere oft auf Flächen ausgesetzt, die noch nicht fertig sind. Das können zum Beispiel Ackerflächen sein, die schnell zu Reptilienflächen umgewandelt wurden. Doch dieser Wandel kann dauern: Es braucht zum Beispiel ein bestimmtes Mosaik an Vegetation, damit die Tiere Deckung und Nahrung finden. Zudem dürfen auf den Flächen keine Zauneidechsen vorkommen. Wir wollen neue Individuen nicht auf Flächen bringen, die schon besetzt sind, sonst kommt es zu Konkurrenzkämpfen. Wir wollen auch eine bestehende Population nicht schwächen, indem die Neuankömmlinge eventuell Krankheiten einschleppen. Und die Eidechsen sollen nicht zu weit von ihrer bisherigen Heimat ausgesetzt werden, Entfernungen von 500 bis 1000 Metern sind ideal.

Ist es schwierig, Ersatzflächen zu bekommen?

Kösling:

In Deutschland sind freie Flächen knapp. Das macht dem Naturschutz insgesamt das Leben sehr schwer. Bei Umsiedlungsmaßnahmen von Eidechsen ist es noch schwerer, weil diese Flächen geeignet, aufwertbar und möglichst langfristig gesichert sein sollten. Insbesondere Großstädte wollen Freiflächen behalten, weil sie ja auch irgendwann mal was bauen müssen. Zudem sind die Flächen sehr teuer. Bauherren suchen deswegen oft in angrenzenden Landkreisen.

Wie kommen Sie an die Flächen?

Kösling:

In der Regel ist das eine Sache des Bauherrn und des zuständigen Umweltamtes. Das Amt sagt dem Bauherrn: Ihr müsst Ausgleichsflächen bereithalten; der Bauherr fragt zurück: Und wo? Dieser Prozess kann oft dauern. Es gab auch Vorhaben, da haben wir bei der Suche geholfen. Irgendwann findet man schon etwas. Generell sind fehlende Ersatzflächen aber ein großes Problem.

Wann ist eine Umsiedlung geglückt?

Ortlieb:

Sie ist dann erfolgreich, wenn Gesamtzahl und Altersstaffelung der Individuen am neuen Standort identisch sind mit denen am alten Standort. Die Aussichten, dass die Tiere dort dauerhaft leben können, müssen sehr gut sein.

Wie stellen Sie das fest?

Ortlieb:

Durch ein gut geplantes und umgesetztes Monitoring im Gelände. Dafür werden die Tiere erfasst. Teilweise lassen sich die Tiere anhand von Fotos wiedererkennen, die im Rahmen des Abfangs angefertigt wurden.

Kösling: Tatsächlich ist es aber so, dass wir nur bei weniger als einem Fünftel der Vorhaben, zu denen wir als ökologische Baubegleitung hinzugezogen werden, ein Monitoring machen dürfen. Das kann regional variieren. Noch zu wenige Behörden verlangen regelmäßig ein Maßnahmenmonitoring.

Gibt es keine Standards?

Ortlieb:

In Mecklenburg-Vorpommern arbeiten wir gerade daran. Jeder zuständige Sachbearbeiter in der Unteren Naturschutzbehörde, auch außerhalb Mecklenburg-Vorpommerns, hat seine eigenen Ansprüche. Wir bräuchten Standards für viele Verfahrensschritte, zum Beispiel beim Fang der Tiere: Wie viel Aufwand muss beim Fang betrieben werden? Wann gilt die Fläche als leer? Welche Qualifikationen muss das Personal vorweisen, das Eidechsen fängt?

Kösling: Auch die rechtliche Sicherung der Aussetzungsflächen und insbesondere die Pflege der Ersatzlebensräume müssen standardisiert werden. Ob und wann ein Zaun zum Einsatz kommt, wird oft willkürlich entschieden. Auch für die Ersatzhabitate fehlen einheitliche Vorgaben. Manche kippen nur Steine und Kies hin, zum Teil sogar belasteten Bauschutt, weil das ja auch als Steinhaufen gilt. Manche nehmen Baumstämme, andere nur Zweige, gelegentlich gar von Ziergehölzen, was natürlich völlig falsch ist.

Bei Stuttgart 21 hat die Deutsche Bahn rund 15 Millionen Euro für die Umsiedlung von Eidechsen ausgegeben. Was entgegnen Sie Kritikern, die die hohen Ausgaben beklagen?

Ortlieb:

Die Roten Listen werden immer länger; gerade kleinere Tiergruppen wie Reptilien und Amphibien sind extrem unter Druck. Wir sind bislang noch nicht sehr erfolgreich - wir müssen mehr tun. Dies gilt vor allem für die Land- und Forstwirtschaft.