Alle Hunde wurden gegessen

»Bohnenstange« ist einer der intelligentesten und forderndsten Filme der letzten Jahre, die vom Krieg erzählen

  • Benjamin Moldenhauer
  • Lesedauer: 5 Min.

Fast jede Szene in diesem Film lässt sich beschreiben als Herstellung von größtmöglicher Nähe zwischen Zuschauerin und Figur, beim gleichzeitigen Versuch, allzu leichte Empathie oder gar Rührseligkeit zu unterbinden. Der Versuch ist dem jungen russischen Regisseur Kantemir Balagow mit seinem zweiten Film »Bohnenstange« geglückt. Die Mittel, mit denen diese Herstellung gelingt, sind einfach, aber greifen nur, weil sie virtuos gehandhabt werden. In fast jeder zentralen Sequenz geht die Kamera von der überblicksartigen Distanz Schnitt für Schnitt näher an die Körper der Figuren heran, mit einer so ruhigen, bewusst kaum merkbaren Vehemenz, dass einem die Zunahme von Nähe erst beim zweiten Sehen auffällt.

In der unmittelbaren ästhetischen Erfahrung, die »Bohnenstange« entfaltet, wird die Zuschauerin das Schicksal der Menschen, von denen hier erzählt wird, also gleichsam aufs Auge gedrückt. Das Resultat ist allerdings, wie gesagt, nicht entgrenzte Anteilnahme, sondern eine ganz basale von den Bildern formulierte Aufforderung: Dass man das, was hier geschieht, bitte wahrnehmen und aufmerksam zur Kenntnis nehmen soll.

Zur Kenntnis genommen werden soll eine bestimmte Art vom Krieg zu erzählen. Einmal vom Krieg generell, als Prozess der Zerstörung der Körper. Und dann von einem ganz spezifischen Geschehen, dem Vernichtungskrieg, den die Wehrmacht gegen die Sowjetunion geführt hat. Der Große Vaterländische Krieg aber taucht in »Bohnenstange« als Bild selbst nicht auf. Die Erzählung beginnt kurz nach der Kapitulation Deutschlands, in Leningrad, einer der Städte, deren Bürgerinnen und Bürger am schlimmsten zu leiden hatten. Wenig wird direkt benannt, das meiste taucht in Nebensätzen auf oder in Spuren an den Körpern, die Balagow ins Bild setzt. Die Aushungerung der Menschen Leningrads wird aufgerufen in einem einzigen Satz: Ein kleiner Junge soll ein Tier imitieren, vor verwundeten Soldaten in einem Leningrader Spital. Er weiß nicht, was zu tun ist, weil klar: »Woher soll er wissen, was ein Hund ist.« Es gibt keine Hunde mehr in der Stadt, die Hunde sind alle gegessen worden.

Das Krieg ist als Bild also abwesend und kann schon deswegen nicht als Heldengeschichte erzählt oder sonst wie ästhetisiert werden. In seinen zerstörerischen Auswirkungen auf die Körper aber ist er in diesem Fall ununterbrochen präsent. Der Junge, Pahska (Timofey Glazkov), ist wenig später tot, erstickt von der Titelheldin, der Krankenschwester Iya (Viktoria Miroshnichenko), die wegen ihrer Größe von allen nur Bohnenstange gerufen wird. Iya war an der Front, ist noch während des Krieges nach Leningrad zurückgekehrt und verfällt seitdem immer wieder unvermittelt in Erstarrungszustände. Der Tod des Kindes ist ein Unfall, der nicht geschehen wäre ohne diese psychische Versehrung.

Pashka ist der Sohn von Masha (Vasilisa Perelygina), die erst nach Kriegsende nach Leningrad zurückkommt. Sie hat ihn Iya anvertraut. Iya lügt, Pashka sei ihm Schlaf gestorben. Ihre Freundin verlangt von ihr ein neues Kind. Mashas Körper ist im Krieg so weit zerstört worden, dass sie nicht mehr schwanger werden kann. Diese Geschichte taugt nicht als exemplarische Erzählung über den Krieg. Aber sie ist das Gerüst, in dem »Bohnenstange« fast zweieinhalb Stunden lang aus größtmöglicher, analytischer Nähe von Versehrungen berichtet: körperliche Zerstörungen, Narben, fehlende Gliedmaßen, aber auch die psychischen - Erstarrung, Depression, Verrohung.

Kantemir Balagows Film ist, so steht es in der Presseinfo, inspiriert von Swetlana Alexijewitschs Buch »Der Krieg hat kein weibliches Gesicht«. Heißt, er nimmt keine der Erzählungen von Frauen, die im Großen Vaterländischen Krieg waren und aus denen Alexijewitsch den Text kompiliert hat, als direkte Vorlage, sondern adaptiert eher so etwas wie ihre erzählerische Haltung: Der Krieg wird konsequent aus der Perspektive von Frauen erzählt, die nicht nur in den Lazaretten tätig waren, sondern als Soldatinnen an der Front, in Fliegerstaffeln und bei den Partisanen. Und damit nimmt er im selben Zuge die Perspektive derer ein, für die in nationalen Heldengeschichten kein Platz war. Man sieht auch, was für die aus dem Krieg zurückgekehrten Frauen übrigblieb: Masha ist in den Augen der Parteifunktionärin nur noch eine Prostituierte, die sie verachtet.

Während Swetlana Alexijewitschs beeindruckender Text aber dort, wo die Autorin sich selbst einschaltet, das beeindruckende dokumentierte Material manchmal mit Poesiealbensätzen belastet (»Frauen leben sinnlicher und detaillierter, das liegt in ihrer Natur«), bleibt »Bohnenstange« in einer zermürbenden Weise nüchtern. Größtmögliche Nähe heißt hier nicht, dass er die Zuschauerin zur Fraternisierung auffordern würde. Es gibt in diesem Film keine Empathie ohne Ambivalenz, es bleiben im Handeln der Figuren immer Leerstellen und offene Details. Und auch ein Ende, das den Konflikt auflösen würde, wird einem vorenthalten.

Selbst die wunderbaren Farben der Bilder wirken in diesem Fall irritierend. Einfach wäre gewesen, das Ganze als sozialrealistisches Elend zu inszenieren. Aber Ergriffenheit kann auch ein schlechter Ersatz für Erkenntnis in der ästhetischen Erfahrung sein. In seiner Mischung aus erschlagener Nähe und analytischer Distanz ist »Bohnenstange« einer der intelligentesten und forderndsten Filme der letzten Jahre, die vom Krieg erzählen. Ein Krieg, der hier nichts Faszinierendes mehr hat, einfach weil hier keiner mehr auf seine spektakulären Versprechen - Erhabenheit, Kanonendonner, Heldentod, das ganze Ernst-Jünger-Programm - auch nur eingeht, sondern ihn auf das Wesentliche reduziert: die Folgen, die er für die Menschen hat, die an ihm teilnehmen mussten.

»Bohnenstange«: Russland 2019. Regie: Kantemir Balagow. Drehbuch: Kantemir Balagow, Alexander Terekhov. Mit: Viktoria Miroshnichenko, Vasilisa Perelygina, Andrey Bykov, Timofey Glazkov.137 Minuten. Kinostart: 22.10.

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