nd-aktuell.de / 23.10.2020 / Politik / Seite 3

Der Kampf um ein würdevolles Leben

Das Verfassungsreferendum in Chile ist eine Errungenschaft der anti-neoliberalen Protestbewegung

Sophia Boddenberg, Santiago de Chile

Tausende Menschen haben sich an der Plaza de la Dignidad (Platz der Würde) zusammengefunden, wie die Demonstrant*innen die Plaza Baquedano in Chiles Hauptstadt Santiago nennen. Sie feiern den Jahrestag der Revolte, die sich am 18. Oktober 2019 im ganzen Land ausgebreitet hat. Musikgruppen mit Trommeln und Blasinstrumenten begleiten den Protestgesang »Chile Despertó« (Chile ist aufgewacht), der Hit dieses bunten Straßenfests. »Ein Jahr nach dem Erwachen schläft das Volk nicht, sondern kämpft weiter«, steht auf einem etwa 15 Meter mal sieben Meter großen Banner, das jemand von einem Hochhausdach aus ausgerollt hat.

»Unsere Renten sind niedriger als Hungerlöhne«, sagt die etwa 65-jährige Cecilia Araya, die heute zum Protest gekommen ist. Sie trägt eine Atemschutzmaske mit einer Flagge der Mapuche, dem größten indigenen Volk Chiles. »Meine Mutter musste Gewürze auf der Straße verkaufen, weil sie eine Rente von 80 000 Pesos (etwa 100 Euro) hatte. Überall sieht man Renter*innen, die irgendwas auf der Straße verkaufen, weil ihre Renten nicht ausreichen.« Der gewerkschaftsnahen Stiftung Fundación Sol zufolge sind 80 Prozent der Renten in Chile niedriger als der Mindestlohn von umgerechnet etwa 350 Euro - bei Lebenshaltungskosten, die denen in Deutschland ähneln. Die privaten Rentenfonds AFP (Administradoras de Fondos de Pensiones) sind eine der Folgen der neoliberalen Maßnahmen, die in Chile während der Pinochet-Diktatur (1973-1990) durchgeführt wurden. Pinochets Arbeitsminister, der sie anstieß, war José Piñera, der große Bruder des aktuellen Präsidenten Sebastián Piñera. Er gehört zu den sogenannten Chicago Boys, einer Gruppe, die neoklassische Wirtschaftstheorien bei Milton Friedman an der University of Chicago studierten und die Basis des Neoliberalismus bilden.

Die Rentenfonds bilden die Grundlage des Vermögens der politischen und wirtschaftlichen Elite des Landes, die sich durch das System bereichert haben. Zahlreiche Minister Pinochets wurden anschließend zu Managern der Rentenfonds. Der chilenische Journalist Daniel Matamala kam in einer Recherche zu dem Ergebnis, dass die Fonds in die größten chilenischen Unternehmen wie Cencosud, Colbún, Endesa und CMPC investiert werden und so die Familien Luksic, Paulmann, Piñera und Matte zu den reichsten Chilen*innen gemacht haben. Auch das Gesundheitswesen wurde während der Diktatur zu großen Teilen privatisiert, die staatlichen Ausgaben stark reduziert. Öffentliche Schulen und Universitäten wurden privatisiert, verlangen seitdem hohe Gebühren und funktionieren wie private Unternehmen. Soziale Grundrechte wurden zu Waren, die auf dem Markt gehandelt werden.

»Piñera, conchatumadre, asesino, igual que Pinochet« (Piñera, du Arschloch, Mörder, genau wie Pinochet, d. Red.), rufen die Demonstrant*innen beim Protest auf der Plaza de la Dignidad. »Mein Vater und mein Bruder waren politische Gefangene während der Diktatur. Ich habe mehrere Freunde, die verschwunden sind, andere wurden ermordet, wieder andere gingen ins Exil. Für mich kam die Demokratie nie nach Chile. Was wir heute erleben, ist eine Diktatur verkleidet als Demokratie«, sagt Araya. Die neoliberalen Reformen wurden während der Diktatur mit militärischer Gewalt durchgeführt. Die Militärs und die Geheimpolizei DINA verfolgten, inhaftierten, folterten und ermordeten Tausende Mitglieder von linken Parteien und Organisationen, Gewerkschaften und Nachbarschaftsversammlungen. Die offizielle Zahl der Opfer der Diktatur beläuft sich auf über 40 000, darunter 3065 Tote oder Verschwundene. »Man kann weder durch Verbrechen noch durch Gewalt die gesellschaftlichen Prozesse aufhalten. Die Geschichte gehört uns, es sind die Völker, die sie machen«, sagte Salvador Allende, der erste demokratisch gewählte sozialistische Präsident der Geschichte, am 11. September 1973, dem Tag des Militärputschs und seines Todes, als der Regierungspalast La Moneda von der Luftwaffe bombardiert wurde.

2020 liest man Zitate von Allende an den Mauern von Santiago und auf den Plakaten der Demonstrant*innen. »Allende Vive« (Allende lebt), hat jemand mit roter Farbe auf die Reiterstatue des Generals Baquedano geschrieben, nach der die Plaza Baquedano benannt wurde. Die Demonstrant*innen haben schon mehrfach versucht, sie zu stürzen, aber der Sockel ist zu massiv. Stattdessen setzen sie sich auf den Rücken des Pferdes und schwenken von dort aus ihre Fahnen: Die Fahne der Mapuche, eine von Schüssen durchlöcherte chilenische Nationalflagge, eine schwarze Flagge mit weißem Stern, die zum Symbol des Aufstands geworden ist - oder auch die Fahne einer beiden großen Fußballclubs in Santiago, Colo-Colo und Universidad. Während der Corona-Ausgangssperren hatte die Stadtverwaltung die Statue angestrichen, um die Erinnerungen an die Revolte auszulöschen. Tag und Nacht bewachten Carabineros, die paramilitärischen Polizisten Chiles, die Statue, um sie vor »Vandalismus« zu beschützen. Beim Protest am Jahrestag haben die Demonstrant*innen keine zehn Minuten gebraucht, um sie wieder bunt anzumalen und ihre sozialen Forderungen auf die Statue zu schreiben: Schluss mit den AFP, kostenlose Bildung, Gesundheitsversorgung für alle.

Ein paar Meter weiter hat jemand eine alte Kloschüssel aufgestellt, in der ein Buch liegt - die Aufschrift: »Politische Verfassung der Republik Chile 1980«. Es ist die Verfassung aus der Diktatur, die bis heute gültig ist und in der das neoliberale Wirtschaftsmodell fest verankert ist. Sie wurde während der Militärdiktatur von Pinochet ohne Beteiligung der Zivilbevölkerung verabschiedet und nie demokratisch ratifiziert. Jaime Guzmán, intellektueller Kopf der Militärregierung und Gründer der rechtskonservativen Partei Unión Democrática Independiente (UDI), entwarf sie zu großen Teilen. Er baute Fallen ein, um eine grundlegende Reform zu verhindern. »Wenn die Gegner an die Regierung gelangen sollten, sollen sie sich gezwungen sehen, eine ähnliche Politik zu verfolgen wie ich selbst. Der Spielraum für Alternativen soll so begrenzt sein, dass es extrem schwierig ist, etwas zu verändern«, sagte Guzmán über die Verfassung.

Zahlreiche Politikbereiche wurden gegen mögliche Änderungen mit hohen Mehrheitsanforderungen von zwei Dritteln oder drei Fünfteln abgesichert. Die neoliberale Grundlage der Verfassung ist das Subsidiaritätsprinzip des Staates. Damit ist gemeint, dass Privatunternehmen in allen Aspekten den Vorrang haben und der Staat nur dann eingreift, wenn die Privaten nicht können oder wollen. So wird vermeintlich das Recht auf Zugang zu Bildung, Gesundheit und Renten garantiert. In der Realität erhalten diesen Zugang aber nur diejenigen, die ihn bezahlen können. Tiefgründige Reformen im Bildungswesen oder im Rentensystem konnten bisher nicht durchgeführt werden, weil sie verfassungswidrig sind.

»Alle Gesetzesprojekte, die in der Vergangenheit strukturelle Veränderungen etwa im Bildungsbereich oder auf dem Arbeitsmarkt zum Ziel hatten und im Parlament von einer Mehrheit verabschiedet wurden, sind am Verfassungsgericht gescheitert«, sagt der Politikwissenschaftler Octavio Avendaño, der an der Universidad de Chile in Santiago lehrt. »Die Verfassung hat mehrere Aspekte, die verhindern, dass die Forderungen nach einer gerechten Gesellschaft umgesetzt werden können. Die chilenische Verfassung verleiht dem Eigentumsrecht mehr Bedeutung als den Grundrechten der Menschen.« Deshalb rückte die Forderung nach einer neuen Verfassung ins Zentrum der Revolte.

Am 25. Oktober können die Chilen*innen darüber abstimmen, ob sie sich eine neue Verfassung geben wollen und mit dem Erbe der Diktatur abschließen wollen. Laut der Umfrage Pulso Ciudadano sprechen sich 84,8 Prozent der Bevölkerung für eine neue Verfassung aus. »Die Rechten wissen, dass eine große Mehrheit für die neue Verfassung stimmen wird. Aber sie werden alles tun, um substanzielle Reformen und eine radikale Veränderung der Verfassung von 1980 zu verhindern«, sagt Politikwissenschaftler Avendaño. Aus demselben Grund gibt es ein starkes Misstrauen in den verfassunggebenden Prozess. Die Regierung hat außerdem die Coronavirus-Pandemie als Vorwand benutzt, um autoritäre Maßnahmen ohne Widerstand durchzusetzen, wie den Ausnahmezustand, nächtliche Ausgangssperren und den Einsatz des Militärs. Anfang Oktober schubste ein Carabinero einen Demonstranten von einer Brücke in den Fluss Mapocho. Bei einem Protest am Jahrestag der Revolte in der Población La Victoria erschoss ein Carabinero einen Demonstranten. »Wir haben so viel Repression erlebt, so viele Jugendliche haben ihr Augenlicht verloren, weil Carabineros auf sie geschossen haben, andere sind im Gefängnis. Und Piñera hat nichts dafür bezahlt, genauso wie die Mörder der Pinochet-Diktatur«, sagt die Demonstrantin Cecilia Araya. »Deshalb protestiere ich weiter, weil ich wütend bin und nicht wütend sterben will.« Für viele Demonstrant*innen an der Plaza de la Dignidad ist das Referendum deshalb nicht das Ende der Protestbewegung, sondern ein neuer Anfang. Das Ziel ist für alle klar: ein Leben in Würde.