»Eine gnadenlose Fehleinschätzung«

Laut Ökonom Rudolf Hickel wird die Coronakrise trotz des Optimismus im Sommer noch lange weitergehen

  • Simon Poelchau
  • Lesedauer: 5 Min.

Die Corona-Infektionszahlen schießen wieder in die Höhe, im bayerischen Berchtesgaden gibt es bereits einen regionalen Lockdown. Wird es einen flächendeckenden Lockdown in Deutschland geben?

Eins ist sicher: Es wird in noch weitaus mehr Regionen zu Lockdown-Situationen kommen. Ob die Situation beherrschbar bleibt oder ob es zu einem bundesweiten Lockdown kommt, wird sich in den nächsten Wochen entscheiden. Endlich setzt sich die Erkenntnis durch: Die ökonomische, soziale und politische Entwicklung hängt derzeit ausschließlich vom Verhalten der Menschen ab, vor allem von den Ignoranten der Coronakrise. Die Basisideologie des Neoliberalismus vom Ego-Individualisten hat das Virus infiziert. Das Wohlergehen des Einzelnen ist vom Wohlergehen der Anderen abhängig. Gegen den seelenlosen Homo Oeconomicus steht ein, wie es Adam Smith andeutete, emanzipatorischer Individualismus im Klima gesellschaftlicher Sympathie. Coronablindes Saufen im Rudel erzeugt kollektiv das Schließen der Kneipen.

Rudolf Hickel
Der 78-Jährige ist einer der profiliertesten linken Ökonomen des Landes. Der Finanzexperte gründete zusammen mit anderen 1975 die Arbeitsgruppe Alternative Wirtschaftspolitik (Memo-Gruppe) und ist langjähriger nd-Kolumnist. Mit ihm sprach Simon Poelchau über die Folgen eines möglichen zweiten flächendeckenden Lockdowns und des Risikos der Verschärfung der Coronakrise.

Ein Argument gegen strengere Maßnahmen ist meist, dass diese nicht angemessen und den Menschen vermittelbar seien.

Auch ich musste lernen: Diejenigen, die den Staat in den letzten Jahren wegen seiner einseitigen Sozial- und Umweltpolitik kritisiert haben, dürfen deshalb im Kampf gegen die Coronakrise staatliches Handeln nicht abweisen. Wir brauchen jetzt einen sehr mutigen, handlungsfähigen, aber auch demokratisch abgesicherten Staat. Deswegen ist es wichtig, dass die Parlamente wieder einbezogen werden in die Debatten und die Regierungen nicht einfach mit Verordnungen regieren. Das darf aber nicht dazu führen, dass die auf Bundesebene notwendigen Maßnahmen wegen Parteiengezänk nicht zustande kommen. Wer den kompletten Lockdown und damit einen massiven Zusammenbruch der Wirtschaft verhindern will, muss die aktuellen Herausforderungen der Pandemie wirklich ernstnehmen.

Verkraftet die Wirtschaft tatsächlich keinen zweiten Lockdown?

Die Schäden in der Wirtschaft sind bereits sehr groß. Besonders kleine und mittlere Betriebe, die auch die lokale Ökonomie prägen, hat es getroffen. Ein zweiter flächendeckender Lockdown, wie es ihn im Frühjahr mit der Schließung von Geschäften, der Gastronomie und der Reisebranche gab, würde zur Demontage von Unternehmen, Massenarbeitslosigkeit, sozialer Spaltung und politischer Destabilisierung führen.

Ist die Lage so prekär? Zuletzt machte sich doch Optimismus aufgrund des Aufschwungs im Sommer breit.

Diesen Optimismus teile ich nicht. Die fünf führenden Wirtschaftsinstitute senkten jüngst ihrer Gemeinschaftsprognose. Sie gehen in ihrem Herbstgutachten nach minus 4,2 noch im Frühjahr jetzt von einem Einbruch der Wirtschaftsleistung von 5,4 Prozent aus. Und ich bin ausgesprochen skeptisch, dass es nächstes Jahr schon wieder steil bergauf geht.

Warum?

Die exportfixierte Wirtschaft Deutschlands importiert die Coronakrise aus dem Ausland. Die Wirtschaft der USA, die unser wichtigstes Exportland ist, stürzt gerade ab. Auch in Europa ist die Lage nicht gerade rosig. Lediglich aus China werden wieder deutliche Wachstumsraten vermeldet. Jene, die jetzt vom V-Verlauf schwärmen, also vom Aufschwung nach dem Abschwung, übersehen: Die Coronakrise erzeugt einen nicht der gewöhnlichen Konjunktur vergleichbaren Abschwung. Für einen normalen Abschwung liegt der Grund in den Gesetzen des Wirtschaftskreislaufes, danach geht es automatisch bergauf. Die Coronakrise erzeugt einen exogenen Schock. Zuvor gesunde Unternehmen werden ohne Eigenverschulden in die Krise gezwungen. Darüber hinaus verändert die Pandemie grundlegend, wie wir arbeiten, konsumieren und leben. Das fängt beim Homeoffice an und hört beim Verzicht auf Inlandsflüge und Kreuzfahrten auf.

Haben die Konjunkturprogramme der Bundesregierung überhaupt geholfen?

Sie haben zunächst geholfen. Aber vieles davon sind nur Überbrückungsmaßnahmen, die erfolgreich den sofortigen Absturz verhindert haben. Doch für viele Unternehmen wird es jetzt schwierig. Deswegen hat Wirtschaftsminister Altmaier auch schon angekündigt, noch mal nachlegen zu wollen. Vor allem birgt die Situation noch ein anderes Problem: Die Anzahl der faulen Kredite bei den Banken ist bereits gestiegen.

Droht also eine neue Finanzkrise infolge der Coronakrise?

Ja. Wenn es zu Pleiten kommt, müssen auch die Banken die Kredite abschreiben, die sie an die Unternehmen vergeben haben. Für diesen Fall sind die deutschen Banken schlecht aufgestellt. Das trifft für die Großbanken zu, die nach dem Abbau des spekulativen Investmentbankings seit der letzten Finanzkrise ins Geschäft mit der Finanzierung des Mittelstands eingestiegen sind. Auch Sparkassen und Volksbanken sind aufgrund von Krediten, die sie traditionellerweise an viele kleinen und mittlere Unternehmen sowie die lokale Ökonomie vergeben, bereits betroffen.

Bundesfinanzminister und SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz will ab 2023 wieder Schulden tilgen. Ist das überhaupt realistisch?

Absoluter Unfug! Das ist schlichtweg unverantwortlich von Scholz! Es sind ja nicht nur die direkten Hilfen, mit denen der Staat der Wirtschaft geholfen hat. Zählt man die staatlichen Garantien in Form von Bürgschaften und Schnellkrediten hinzu, dann belaufen sich die finanziellen Risiken für Bund, Länder und Gemeinden auf insgesamt 1,446 Billionen Euro, wie das Bundesfinanzministerium jüngst auf eine Anfrage der Linksfraktion zugeben musste. Das sind fast 1,5 Billionen Euro, die dann notfalls per Tilgung der Kredite zurückgezahlt werden müssen. Bei einem normalen Tilgungszeitraum von 20 Jahren würde alle öffentlichen Haushalte mit jährlich bis zu 70 Milliarden Euro belastet.

Was wäre die Alternative?

Wenn Olaf Scholz die wegen der Coronakrise aufgenommenen Schulden mit einer Frist von 100 Jahren tilgen will, dann gebe ich diesen »ewigen Schulden« das Okay. Einen weiteren Teil könnte jetzt schon die Europäische Zentralbank über Ankäufe von Staatsanleihen in die Bilanz übernehmen. Hinter dem Vorschlag von Olaf Scholz steckt ansonsten eine gnadenlose Fehleinschätzung der ökonomischen Lage. Massive Verteilungskonflikte wären die Folge. Und die Coronakrise trägt schon jetzt zur weiteren sozialen Spaltung bei, weil vor allem die einkommensschwachen Haushalte betroffen sind. Insofern müsste Scholz, wenn er 2023 schon wieder tilgen will, auch über eine Vermögensabgabe nachdenken.

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