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Texte für alle

Universelle Literatur: Das Experiment »LiES - Das Buch« macht die Branche inklusiver

  • Frédéric Valin
  • Lesedauer: 6 Min.

Für wen ist Literatur da und an wen wendet sie sich? Als wie kunstvoll kann Geschriebenes gelten, wenn es von vielen verstanden wird, überhaupt: für wen schreibt man als Autor*in? Das sind Fragen, die die Literaturproduktion und -kritik von jeher beschäftigen.

Eine Antwort ist: möglichst alle. Diese Antwort liegt auch der Anthologie »LiES - Das Buch« zugrunde, in dem Texte unter anderem von Arno Geiger, Judith Hermann, Olga Grjasnowa und Ulrike Almut Sandig versammelt sind. »Gute Kunst sieht oft einfach aus«, heißt es im Nachwort, und »Wenn Kunst nichts wagt, ist es keine Kunst.« Deswegen sind die versammelten Autor*innen das Wagnis eingegangen, Geschichten in einfacher Sprache zu erzählen; an einer Literatur zu arbeiten, die in Stil, Aufbau und Inhalt die Leser*innen mit im Blick hat.

Vorweg: Einfache Sprache ist nicht leichte Sprache. Leichte Sprache folgt strengen Regeln und ist auch nicht für literarische Vorhaben entwickelt worden; es geht darum, Informationen so zu transportieren, dass sie möglichst jede*r versteht. Einfache Sprache hingegen ist der Versuch, Geschichten so zu erzählen, dass sie auch jene erreicht, die gängigen Vorurteilen nach nicht zu den Leser*innen von Hochliteratur gerechnet werden. Deswegen hatten sich einige der Autor*innen in einem Workshop zusammengefunden, um zehn Regeln auszuarbeiten, die - angelehnt an wissenschaftliche Erkenntnisse - ihr Schreiben rahmen sollten. Zum Beispiel: relative Kürze, einfache Worte, einfache Sätze, keine Zeitsprünge, keine Perspektivwechsel.

Diese Regeln waren Vorsätze, keine Gesetze. »Alles an diesem Projekt ist undogmatisch«, sagt Hauke Hückstädt, Leiter des Literaturhauses Frankfurt am Main und Ini-tiator des Projektes. »Wir haben kein Fachbuch geschrieben, sondern es ging darum, abzurücken von der Position, dass einfache Sprache etwas Kränkliches ist, etwas Abgespecktes, etwas Makelbehaftetes. Wir wollten das genau umdrehen und sagen: Literatur in einfacherer Sprache kann ebenso Kunst sein.« Hückstädt war es wichtig, dass das Buch kein Nischenprojekt wird, sondern in einem Publikumsverlag erscheint. »Wir sind oft gefragt worden, wer denn unsere Zielgruppe sei«, sagt er. »Dabei ist es gerade andersrum: Dieses Buch hat den Anspruch, niemanden wegzuschicken.«

Und das tut es auch nicht. Es ist beeindruckend, wie vielfältig die Lösungen sind, die die Autor*innen gefunden haben, gerade weil sich die großen Themen wiederholen: In vielen der Texte geht es um Liebe, um Abhängigkeiten und Beziehungen. Es sind universelle Themen, die jede*n angehen und anfassen; dabei klingen die Sätze bisweilen wie aneinandergereihte Slogans, bisweilen wie ein ertastendes Verstehen; wie bei Julia Schochs Geschichte, die zwischen den simplen Sätzen »Ich liebe Dich« und »Ich verlasse Dich« eine langjährige Beziehung auffächert, die der Protagonistin im Laufe der Zeit abhanden gekommen ist, in einem zarten, nachdenklichen und sehr klaren Ton. Andere Geschichten überzeugen durch ihre Eindringlichkeit und Härte, wie Ulrike Almut Sandigs »Die Nacht ist eine schwarze Schnecke« über einen Missbrauch. Manche sind auf zarte, unspektakuläre Weise so anrührend wie humorvoll, wie Maruan Paschens »Splitter«, eine Geschichtensammlung in der Geschichtensammlung mit Texten von kaum ein paar Sätzen Länge. »Während der Abendstunden zählt ein Junge die Sterne.« heißt es da. »Er zählt bis zwei. Später kommen noch ein paar dazu.«

Bemerkenswert sind auch die Geschichten von Kristof Magnusson, der ikonographische Szenen aus der Geschichte beschreibt; insbesondere der Text über den Tod von Uwe Barschel. »Ich wollte ein klares Setting haben«, sagt Magnusson im Gespräch mit »nd«, »für mich muss die Grundprämisse noch klarer sein als ohnehin schon«. Er räumt auch mit dem Vorurteil auf, dass inklusive Literatur in einfacher Sprache einfach nur ein Zugeständnis an ein Publikum sei. Gerade auf Lesungen sei das Publikum diverser gewesen als üblich, sagt er. »Dadurch lernt man selbst auch wahnsinnig viel. Es macht die Literatur universeller.« Darum gehe es eben auch, wenn von kultureller Teilhabe die Rede sei. »Und kulturelle Teilhabe ist der nächste wichtige Schritt.« Für ihn ist aus dem Experiment ein ganzes Projekt entstanden: er mache nun weiter, sagt er. Idealerweise habe er am Ende eine Geschichte der Bundesrepublik in sechzehn Kriminalfällen in einfacher Sprache.

Anna Kim kam in einer zweiten Projektrunde dazu und hatte an keinem Workshop teilgenommen, sondern sich die Regeln selbst erschlossen. »Ich habe nicht so sehr viel Erfahrung mit Menschen mit Lernbehinderungen, deswegen habe ich mir Kinder als Leser vorgestellt.« Ihre Geschichte handelt von Frau Kleinau, die sehr zurückgezogen lebt und am Ende doch noch ihr Abenteuer findet. Kim sagt dazu, sie habe »ein wenig falsch gelegen« mit ihrer Vorstellung, die »Einfachheit umzudrehen«; sie hat viel mit lyrischen Mitteln gearbeitet, mit Sprachspielen und Gegensätzen. Erst auf der Lesung mit Arno Geiger habe sie festgestellt, dass er anders gearbeitet, ganz andere Lösungen gefunden habe. Geiger, dessen Buch »Der alte König in seinem Exil« über die Demenzerkrankung seines Vaters in leichte Sprache übersetzt worden ist, hatte da auch bereits einiges mehr an Erfahrung.

»Ich habe ziemlich lang gebraucht für die Erzählung«, sagt Kim, »ich fand es eine schwierige, aber auch sehr schöne Aufgabe.« Die Mischung aus poetischen Mitteln und relativ strengen Regeln sei eine interessante Herausforderung gewesen: »Richtig Handwerk. Und das ist sehr wichtig.« Die Erkenntnisse aus dieser Arbeit fließen nun auch in ihr jetziges Schreiben ein: »Ich überlege stärker, wie Sätze verstanden werden, wo sie mehrdeutig sind und ob diese Mehrdeutigkeit etwas Gutes ist.« Obendrein hat sie jetzt unter dem Pseudonym Anna van Lanen ein Kinderbuch in einfacher Sprache verfasst: »Das Schoko-Geheimnis«, eine Kriminalgeschichte für Jugendliche, die ungern lesen.

Angestoßen wurde das Projekt »LiES - Das Buch« vom Frankfurter »Netzwerk Inklu᠆sion«. »Wir hatten uns schon länger mit dem Thema Inklusion und Literatur beschäftigt«, sagt Eva Keller, Journalistin und Übersetzerin für Leichte Sprache. »Es gibt Kinderbücher in einfacher Sprache, aber für Jugendliche und Erwachsene gibt es nur wenig. Da ist eine große Lücke.« Sie selbst hat den Workshop geleitet, in dessen Rahmen sich die Autor*innen die Regeln für die Anthologie auferlegt haben. »Es gab die ganze Bandbreite an Reaktionen, von völliger Offenheit bis zu Skepsis«, sagt sie. Entsprechend seien die Texte auch mehr oder weniger zugänglich. »Das ist eben Teil des Experiments: Nicht jeder Text ist für jeden, und ja: manche muss man mehrmals lesen.«

Insgesamt berichten alle Beteiligten, dass sie viel Offenheit erfahren hätten, vor allem vom Publikum. Übersetzerin Keller plädiert auch dafür, nicht nur solche Projekte zu forcieren, sondern auch mehr Übersetzungen zu wagen. »Übertragungen verändern einen Text natürlich«, sagt sie. Gleichzeitig sei aber die Frage, was denn die Perspektive wäre. Bei Übersetzungen gehe es auch darum, wie viele Menschen ein Buch lesen könnten, mitreden könnten. »Natürlich kann man fragen, was verloren geht. Man kann aber auch fragen: Was gewinnen wir dadurch, und wer gewinnt dadurch?« Nach der Lektüre von »LiEs - Das Buch« fällt die Antwort leicht: Fast alle gewinnen.

Hauke Hückstädt (Hg.):LiES - Das Buch. Literatur in Einfacher Sprache, Piper, 288 S., geb., 18 €.

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