Lehrer als Feinde

Nach dem Attentat von Conflans-Sainte-Honorine: Islamismus gegen Laizismus an Frankreichs Schulen

  • Ralf Klingsieck
  • Lesedauer: 7 Min.

Seit Wochen läuft im Pariser Justizpalast der Prozess gegen die Helfer der Brüder Kouachi, die im Januar 2015 in der Redaktion von »Charlie Hebdo« zwölf Menschen ermordeten, weil die Satirezeitschrift Mohammed-Karikaturen gedruckt hatte. Zwei Tage später starben die Kouachis im Schusswechsel mit der Polizei in der Nähe von Paris. In der knapp 50 Kilometer entfernten Kleinstadt Conflans-Sainte-Honorine wurde vor knapp zwei Wochen am 16. Oktober der Geschichtslehrer Samuel Paty von dem 18-jährigen Islamisten Abdullakh Anzorov auf offener Straße erstochen und geköpft. Paty hatte im Unterricht Mohammed-Karikaturen gezeigt, um über Meinungsfreiheit zu diskutieren. Er wollte vermitteln, dass es zu den fundamentalen Werten der französischen Gesellschaft gehöre, offen seine Meinung zu sagen, zu ironisieren und zu lästern, auch über Religion.

Seit dem Gesetz von 1905 über die Trennung von Kirche und Staat gilt die strikte Laizität des Staates und all seiner Institutionen. Eine der Konsequenzen ist, dass von niemandem Angaben über seine religiöse Orientierung oder seine Herkunft verlangt werden darf. Aus diesem Grund gibt es keine offiziellen Statistiken über die Religionszugehörigkeit der Franzosen und auch keine über ihre ethnische Zusammensetzung. Alle bekannten Zahlen beruhen auf Schätzungen der nationalen Wissenschaftsorganisation CNRS. Danach betrachtet sich mehr als die Hälfte der 66 Millionen Franzosen als Atheisten, Agnostiker oder keiner Religion zugehörig. Als praktizierende Katholiken bekennen sich etwa 11,5 Millionen, 500 000 als Protestanten und 450 000 als Juden, von denen etwa jeder zweite seinen Glauben nicht praktiziert. Die Zahl der Muslime wird auf 4,5 Millionen geschätzt. Davon besuchen zwei Drittel das Freitagsgebet in einer der rund 2500 Moscheen oder provisorischen Gebetsstätten. Darunter sind 150 Orte, die der (mehr politischen als religiösen) Moslembruderschaft zugeordnet werden, 200, die sich in der Hand der offensiv agierenden Missionierungsorganisation Tablighi befinden und 150 von den orthodox-muslimischen Salafisten. Die Sicherheitsbehörden bezeichnen 15 000 Personen als radikale Islamisten, von denen 18 Prozent minderjährig sind.

Blasphemie wie beispielsweise die Mohammed-Karikaturen wird vom laizistischen Staat weder verboten noch strafrechtlich verfolgt. Das wird von vielen Muslimen nicht akzeptiert. Vor allem nicht von den Jüngeren, die oft stärker als ihre Eltern ihre Hoffnungen in die Religion setzen. Das macht sie empfänglich für die Losungen der Islamisten, die sie für den Kampf gegen die »Ungläubigen« manipulieren. Der radikale Islamismus wächst in Frankreich seit Jahren. Dass er sich auf die Schulen einschießt, kann nicht überraschen. Sie sind das »Rückgrat der laizistischen Republik«, wie es Präsident Emmanuel Macron ausdrückt. Idealerweise sollen dort die jungen Franzosen nach den Grundsätzen Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit erzogen werden.

Das ist zumindest der Anspruch, der obskurantistischen Eiferern nicht gefällt. Schulen werden immer öfter Ziele ihrer offenen und verdeckten Angriffe. Als im Januar 2015 nach dem Mordanschlag in der Redaktion von »Charlie Hebdo« landesweit an den Schulen eine Gedenkminute eingelegt wurde, wurde sie vielerorts von muslimischen Schülern lautstark gestört. Die Journalisten und Zeichner hätten »den Tod verdient« und ähnliches war zu hören. Die Schulbehörden waren betroffen und versuchten diesen Protest herunterzuspielen. Erst sprach das Ministerium von 70 solcher »Zwischenfälle«, später wurden nach Medienberichten hierüber 200 eingeräumt. Mittlerweile sind Untersuchungen bekannt geworden, dass es in 6900 der 46 000 öffentlichen Schulen zu solchen Störungen kam, das sind 15 Prozent.

Dass diese Zahlen anfänglich verschwiegen wurden, zeugt vom Streben, den Ernst der Lage offiziell herunterzuspielen. In dieser Situation aber fühlen sich die Lehrkräfte alleingelassen. Sie müssen das Kopftuchverbot durchsetzen und gegen die Versuche ankämpfen, mit langen schwarzen Kleidern das Verbot im Gesetz von 2004 zu unterlaufen, an den Schulen »betont Kleidung oder andere Zeichen der Zughörigkeit zu einer Religion zu tragen«. Es kann ihnen passieren, dass muslimische Schüler die Darwinsche Evolutionstheorie in Frage stellen, weil sie den Lehren des Koran widerspreche. Oder es wird Unterrichtsstoff zur Geschichte des Nahen Ostens, Afrikas oder zum Kolonialismus als »falsch und verlogen« komplett abgelehnt.

2013 wurde an den Schulen eine »Charta der Laizität« eingeführt, die mancherorts auf Initiative der Schulleiter von allen Schülern und auch von ihren Eltern zu unterzeichnen ist. Darin steht, dass kein Schüler Unterrichtsthemen unter Berufung auf seine Religion verweigern darf. In der Praxis ziehen viele Lehrer die Diskussion der Sanktionierung vor. Bei der Behandlung von Themen wie die Geschichte Israels und Palästinas sind die Konflikte vorprogrammiert. Nicht wenige Lehrer versuchen dem vorzubeugen, indem sie solche Themen erst gar nicht behandeln. Sie haben dabei einigen Handlungsspielraum, wenn sie in Verzug geraten sind mit dem allgemeinen Lehrplan. Glaubt man Berichten der französischen Presse geht das teilweise so weit, dass an manchen Schulen weder die Geografie noch die Literatur der USA behandelt werden können, weil muslimische Schüler sich weigern, dem zu folgen, da »die USA der Feind des Islam« seien. Da der Nahostkonflikt auf die französischen Schulhöfe ausstrahlt, ist der Antisemitismus allgegenwärtig, der auch handgreiflich werden kann. Das schafft ein Klima der Angst. Es gibt mehr jüdische Familien, die Frankreich verlassen. Nach Angaben des Dachverbands der jüdischen Organisationen waren das 1970-1999 rund 48 000 Menschen gegenüber 55 000 von 2000 bis 2017.

Von den verbliebenen jüdischen Kindern in Frankreich besucht heute ein Drittel eine öffentliche Schule in einem gutbürgerlichen Innenstadtviertel, ein Drittel eine jüdische Privatschule und das restliche Drittel eine katholische Privatschule, wenn es vor Ort keine jüdische gibt. Auch muslimische Eltern nehmen ihre Kinder aus den öffentlichen Schulen, weil sie mit deren Unterrichtsinhalten nicht einverstanden sind, und schicken sie auf eine der immer zahlreicher werdenden islamischen Privatschulen. Manche Kinder werden auch zu Hause unterrichtet, was bislang gesetzlich gestattet ist. Für die Zukunft soll das aber - bis auf Ausnahmen aus medizinischen Gründen - verboten werden, denn es gibt auch Kinder, die statt von ihren Eltern unterrichtet zu werden illegale Koranschulen besuchen, die in den Räumen und mit dem Personal radikalisierter Moscheen betrieben werden. Ein Ergebnis dieser Entwicklung: In einer aktuellen Umfrage erklärten zwei Drittel der muslimischen Schüler, dass die Scharia, das göttliche Regelwerk des Islam über den Gesetzen der Republik stünde.

Ein Problem ist auch der mangelnde Unterricht von Arabisch, das viele junge Franzosen muslimischen Glaubens gern lernen würden. In dieser nach Französisch meistgesprochenen Sprache des Landes können aber heute nur drei Prozent der Schüler an Mittelschulen und Gymnasien unterrichtet werden, das sind etwa 14 000 Schüler - halb soviel wie noch vor 30 Jahren. Diese Lücke haben viele Imame erkannt, die Arabischkurse in den Moscheen organisieren. Die Zahl der Teilnehmer wird auf 80 000 geschätzt. Unter ihnen können radikale Islamisten unbeobachtet Nachwuchs rekrutieren.

Es mehren sich die Fälle, dass radikal-muslimische Eltern versuchen, in den Unterricht der öffentlichen Schulen einzugreifen, in dem sie beispielsweise verlangen, dass ihr Kind keine Menschen zeichnen soll oder keine Musik hören oder Lieder singen soll, weil das mit den strengen Regeln des Islam unvereinbar sei. Mädchen sollen nicht turnen oder schwimmen, weil sie sich nicht »unzüchtig« kleiden sollen. Es gibt Ärzte, die diesen Kindern bescheinigen, aus gesundheitlichen Gründen sei die Teilnahme an Schulsport oder Schwimmen nicht möglich.

Hier etabliere sich ein »Gewohnheitsrecht«, warnt Jean-Pierre Obin, ein inzwischen pensionierter Generalinspektor des Bildungswesens, in seinem im September erschienenen Buch »Wie wir den Islamismus in die Schule haben eindringen lassen«. Er habe schon 2004 in einer vom Bildungsministerium in Auftrag gegebenen Studie über »Angriffe auf den Laizismus an den öffentlichen Schulen« vor dem Vordringen der Islamisten gewarnt, doch sei dieser Bericht den Politikern der damaligen rechten Regierung ungelegen gekommen, so dass er unter den Teppich gekehrt worden sei. »Seitdem sind die Dinge noch viel schlimmer geworden, vor allem wegen der Untätigkeit, die den Islamisten in die Hände spielt«, meint Obin.

Er fordert eine bessere und gezielte Ausbildung der Lehrer, auch in Laizismus, der beim gegenwärtigen Studium kaum eine Rolle spiele. Nur sechs Prozent der Lehrer geben an, dass in ihrem Studium der Laizismus thematisiert worden wäre. Obin schlägt vor, sachlich und neutral sowohl beim Lehrerstudium als auch im Schulunterricht die Religionen der Welt zu behandeln, denn ohne dieses Wissen könne man vieles in der Geschichte, der Kunst und der Literatur nicht verstehen und einordnen.

So würden auch viele Vorurteile und falsche Informationen über den Islam abgebaut werden. »Von Imamen höre ich immer wieder, dass die meisten der radikalen Islamisten den Islam eigentlich gar nicht kennen, sondern nur missbrauchen«, sagt er. Der beste Ansatz, um eine Wende einzuleiten, wäre die gezielte Herstellung sozialer und ethnischer Durchmischung der Schulen, meint Jean-Pierre Obin. »Das wäre außerdem, wie die OECD durch internationale Vergleiche festgestellt hat, die optimale Voraussetzung für gute schulische Ergebnisse.«

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