Verzögerungen sind keine Hilfe

Die verantwortlichen Politiker wollten den Lockdown verhindern. Mittlerweile ist er eine realistische Option

»Es ist nicht fünf vor zwölf, sondern zwölf, um das Schiff noch zu drehen.« So hatte Michael Meyer-Hermann, Leiter der Abteilung Systemimmunologie am Helmholtz-Zentrum für Infektionsforschung in Braunschweig, den Teilnehmern bei den letzten Bund-Länder-Beratungen in Sachen Corona den Ernst der Lage verdeutlicht.

Zwei Wochen und Zehntausende Infizierte später beraten Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) und die Ministerpräsidenten am Mittwoch erneut darüber, mit welchen Maßnahmen die rasante Ausbreitung des Sars-CoV-2-Virus gebremst werden kann. Allerdings sieht es ganz danach aus, dass das Schiff unter Volldampf schnurstracks in Richtung eines zweiten Lockdowns steuert.

Vermutlich wird es dieses Ziel nach den Gesprächen, die im Gegensatz zum letzten Mal wieder per Videoschalte stattfinden, noch nicht ganz erreicht haben - auch wenn im Vorfeld des Treffens bereits über ein weitgehendes Herunterfahren des öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens diskutiert wurde. Klar ist aber, dass sich am Mittwoch wohl tatsächlich die allerletzte Chance für die Verantwortlichen in Bund und Ländern bietet, das Ruder noch mit weniger drastischen Mitteln herumzureißen.

Für Vizekanzler und SPD-Kanzlerkandidat Olaf Scholz braucht es dazu nun »schnelle und entschlossene Schritte«, um die »neue Infektionswelle zu brechen.« Diese sollten zielgerichtet, zeitlich befristet, deutschlandweit möglichst einheitlich und »allgemein verständlich sein«, so der Finanzminister. Für die Kanzlerin wisse man zwar, »wie wir uns schützen können«. Man könne zielgerichteter vorgehen. »Aber wir sehen auch bei den steigenden Zahlen, dass wenn wir das, was wir wissen über das Virus, nicht einhalten, dass wir dann wieder in Situationen kommen, die ausgesprochen schwierig sind.« Und für Bayerns Ministerpräsident Markus Söder (CSU), der sich in der Coronakrise gerne als Macher und Verfechter strenger Maßnahmen gibt, müssten sich Bund und Länder nun »bewähren«. Jedem müsse klar sein, dass der größte Schaden für die Wirtschaft eine verschleppte Situation sei. »Verzögern wird nicht helfen, Verschleppen verschlimmert.« Es gelte: »Lieber schneller und konsequent als verzögert und verlängert.«

SPD-Gesundheitsexperte Karl Lauterbach forderte gar einen befristeten Lockdown: »Wir brauchen eine Atempause, eine Art Wellenbrecher-Lockdown. Wir müssen aus dem exponentiellen Wachstum wieder raus, sonst sind wir in drei Wochen wieder da, wo wir im Frühjahr waren, nur dass wir dann vor einem langen Winter stehen und in einen kompletten Lockdown müssten.« Nach Auffassung Lauterbachs könnten für zwei Wochen bundesweit »Restaurants, Bars, Kneipen, alle Kulturstätten, Fitnessstudios, Vereine« geschlossen werden. Offen blieben Schulen, Kitas und essenzielle Geschäfte, so Lauterbach.

Der stellvertretende CDU-Bundesvorsitzende und baden-württembergische Innenminister Thomas Strobl ging noch ein Stück weiter und schlug vor, bei einem weiterhin ausufernden Infektionsgeschehen »auch einmal für eine Woche alles dicht« zu machen. Auch Schulen, Kitas und Geschäfte müssten dann schließen, so Strobl gegenüber dem Nachrichtenportal »The Pioneer«.

Mit weitreichenden Vorschlägen für die künftige Anti-Corona-Strategie gehen auch die SPD-geführten Länder plus Thüringen in die Verhandlungen, wie der »Spiegel« am Mittwoch berichtete. Demnach sei in einem in diesem Kreis diskutierten Entwurf für einen Beschlussvorschlag die Rede von einem »schrittweisen Herunterfahren des öffentlichen und wirtschaftlichen Lebens«, sollten alle anderen Schutzmaßnahmen keinen Erfolg bei der Pandemie-Eindämmung haben.

Für diesen Fall sehe das Papier, das sich laut »Spiegel« zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Artikels noch in einem Entwurfsstadium befand, ein weitergehendes sukzessives Herunterfahren des öffentlichen Lebens vor. Die skizzierte »Schließungsreihe« solle dabei bewirken, »möglichst zusätzliche, unnötige Kontakte sowie An- und Abfahrbegegnungen zu reduzieren, ohne einen vollkommenen Lockdown mit seinen schweren wirtschaftlichen und sozialen Folgen ausrufen zu müssen«, wird der Entwurf zitiert. Am Anfang des Maßnahmenkatalogs stünden demnach unter anderem die Schließung von Theatern, Museen, Messen und Veranstaltungen. Weiter ginge es dann beispielsweise mit dem Aussetzen des Vereinssports, der Schließung von Betrieben mit körpernahen Dienstleistungen wie Friseure und endete schließlich mit der Schließung des Einzelhandels für nicht notwendige Güter des täglichen Bedarfs.

Überraschend jedenfalls käme es für die Bevölkerung hierzulande nicht, wenn nach anderen EU-Staaten wie Irland und Tschechien sich auch die Bundesrepublik erneut herunterfahren würde. Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov glauben 63 Prozent der Befragten, dass es wegen des Infektionsgeschehens zu Schließungen von Geschäften, Restaurants oder Schulen kommen werde, nur 23 Prozent glauben nicht daran und 13 Prozent machten keine Angaben.

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