Im Brennspiegel der Pandemie

Der renommierte World Health Summit benennt angesichts von Covid-19 globale Versäumnisse der Gesundheitspolitik

  • Ulrike Henning
  • Lesedauer: 4 Min.

Der World Health Summit (WHS), der am Dienstag nach drei Tagen Dauer zu Ende ging, war seit seinem ersten Durchgang 2009 eine hochkarätige Veranstaltung. Eingeladen von der Berliner Charité, versammeln sich jährlich internationale Vertreter aus der Universitätsmedizin, Pharmahersteller, Gesundheitspolitiker in Regierungsverantwortung und nicht zuletzt Abgesandte der Weltgesundheitsorganisation und einschlägig bekannter Stiftungen, die Gates-Foundation nicht an letzter Stelle.

Anfangs war der Veranstaltung noch Protest aus den Nichtregierungsorganisationen entgegengeschlagen, es gab Alternativgipfel und -Veranstaltungen. Grundton der Kritik: Der Summit ist nicht legitimiert, es gibt bereits Strukturen wie die WHO, die im internationalen Maßstab Gesundheitsprobleme lösen sollten. Die Zivilgesellschaft fehle auf den Podien, es würde zu viel Aufmerksamkeit für Industrieinteressen generiert. Auf jeden Fall konnten auf dem WHS drängende medizinische und gesundheitspolitische Fragen weitgehend ohne die Betroffenen selbst diskutiert werden.

In diesem Jahr war das mit der Covid-19-Pandemie ein wenig anders, denn betroffen sind plötzlich viel mehr Gruppen als nur die üblich nicht Gehörten. Der Gipfel erhielt deutlich mehr Aufmerksamkeit, weil auch aktuell populäre Wissenschaftler wie Christian Drosten zu Wort kamen - und Gesundheit noch deutlicher im Fokus steht. Die WHO war wieder mit hochrangigen Mitarbeitern vertreten, aus der Politik konnte man Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, EU-Kommissionspräsidentin von Ursula von der Leyen und UN-Generalsekretär António Guterres zuhören.

Die Themen gingen durchaus über die aktuelle Pandemie hinaus, debattiert wurden unter anderem die UN-Nachhaltigkeitsziele, Pflege unter Covid-19-Bedingungen, Klimawandel und Gesundheit oder eine neue Strategie gegen Krebserkrankungen von Frauen. Eines der ersten Panels des diesjährigen Gipfels galt der pandemischen Ausbreitung multiresistenter Bakterien, die als eine der größten globalen Gesundheitsgefahren eingeschätzt wird. Die Zahl der Menschen, die jährlich an einer solchen Infektion sterben, könnte von weltweit aktuell 700 000 im Jahr auf zehn Millionen 2030 ansteigen. Im Zusammenhang mit Sars-CoV-2 wurden bislang offiziell rund eine Million Todesopfer gezählt. Multiresistente Erreger sind als Thema insofern aktuell, weil sie als Problem schon seit Jahren von Medizinern diskutiert werden. Es fehlen neue und wirkungsvolle Antibiotika, mit den vorhandenen wird teils wenig verantwortungsvoll umgegangen. Ihr überzogener Einsatz fördert die Entwicklung von Resistenzen bei gefährlichen Bakterien, wie etwa Tuberkulose.

2016 infizierten sich laut WHO weltweit etwa 490 000 Menschen mit MDR-Tuberkulose, gegen die herkömmliche Behandlungsmethoden nicht wirken. Über die Hälfte der weltweiten Fälle, deren Zahl jährlich steigt, sind in Indien, China und Russland zu verzeichnen. Dazu sind die Warnungen durchaus schon lauter geworden, vergleicht man sie mit jenen, die vor der aktuellen Pandemie auf die gefährliche, aber mögliche Mutation von Corona- und anderen Viren hinwiesen.

Wie kann es der internationalen Gemeinschaft gelingen, solche Bedrohungen ernster zu nehmen und rechtzeitig präventiv zu reagieren? Die Schwächen der Kooperations- und Reaktionsfähigkeit kritisierte auch WHS-Präsident Detlev Ganten. Die unterschiedlichen Fähigkeiten von Staaten, sich auf Pandemien einzustellen, zeigte sich im Beitrag des Virologen Christian Drosten, der den Verlauf bei Covid-19 in Deutschland resümierte. Ein früher Lockdown war deshalb möglich, weil der von Drostens Team entwickelte Test schnell zur Verfügung stand. »Politiker in Deutschland wussten so schon früh, dass es eine ernste Erkrankung ist und dass sie bereits im Lande weitergegeben wird.« Angesichts jetzt ansteigender Fallzahlen setzt der Wissenschaftler auf neue Testprogramme, die nicht nur Ansteckungen nachweisen, sondern zeigen, ob Personen ansteckend sind. Drosten wiederholte seinen Rat, die internationale Kooperation auszubauen und zusätzliche Überwachungsprogramme für neu auftretende, von Nutztieren übertragbare Krankheiten einzurichten.

In einem anderen Panel benannten Wissenschaftler, die in Lateinamerika und Afrika in Sachen Covid-19 unterwegs waren, auf welche Hindernisse die Gesundheitsversorgung dort stößt. So berichtete der Berliner Virologe Jan Felix Drexler aus Peru, dass dort viele Menschen ihren Lebensunterhalt als Tagelöhner verdienen müssen. Sie könnten sich vielleicht noch einen Test leisten, aber keine Quarantäne. Insofern seien die aktuell niedrigen Testergebnisse aus Ländern wie Peru wenig geeignet, den Verlauf der Ansteckungen realistisch einzuschätzen. Ein anderes Problem sah Drexler darin, dass Sars-CoV-2-Antikörpertests in afrikanischen Ländern bis zu 20 Prozent falsch positive Ergebnisse brachten. Das könne mit akuten Malariaerkrankungen bei den Getesteten zusammenhängen. Der Forscher forderte in diesem Zusammenhang, dass auch Diagnostika so entwickelt werden müssten, dass sie global verwendbar sind. Derartig detaillierte Einblicke in internationale fachliche Diskussionen ermöglichte die aktuelle Pandemie paradoxerweise auch, denn durch das virtuelle Format war die Teilnahme allen Interessierten möglich - was zuvor kaum gelang.

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