Legale Wahltricks

Donald Trump ist nicht die einzige Bedrohung der Demokratie in den USA

  • Reiner Oschmann
  • Lesedauer: 6 Min.

Am Dienstag ist Präsidentschaftswahl in den USA. Ob der amtierende Präsident das Ergebnis anerkennt, ist offen. Schon das bezeugt die Atmosphäre dieser Wahl. Seit Monaten weigert sich Donald Trump zuzusichern, dass er bei einer Niederlage eine friedliche Amtsübergabe ermöglicht. Stattdessen behauptet er: Gewinne ich, war die Wahl rechtens. Verliere ich, war sie gefälscht. Selbst für die USA, wo es schon andere halbseidene Amtsinhaber gab, ist das neu. Es zeigt, dass eine Gefährdung der Demokratie von dem Mann ausgeht, der sie zu schützen geschworen hat. Doch er ist nicht die einzige Bedrohung für die Demokratie in den USA.

Donald Trump ist als Präsident Oberbefehlshaber der weltgrößten Militärmacht, Herr über 2,5 Millionen Bundesbeamte - und ein Gefährder. Die »New York Times« schrieb soeben in ihrem Bilanzleitartikel, seine »ruinöse Amtszeit« habe den USA »im Innern und in aller Welt schweren Schaden zugefügt. Er hat die Macht seines Amtes missbraucht, die Rechtmäßigkeit seiner politischen Gegner bestritten und so die Normen zerstört, die die Nation über Generationen zusammengehalten haben. Er hat das Gemeinwohl dem Gewinnstreben seiner geschäftlichen wie politischen Interessen unterordnet. Er hat eine atemberaubende Geringschätzung für die Leben und Freiheiten von Amerikanern an den Tag gelegt. Der Mann ist des Amtes, das er innehat, nicht würdig.«

Max und Moritz - der linke Podcast zum US-Wahlkampf

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Die Demokratie in den USA wird aber nicht nur von ihm, sondern auch von einem Wahlsystem geschwächt, das unzeitgemäß, unübersichtlich und ungerecht ist. Aktuell gibt es bei 331 Millionen Einwohnern 238 Millionen Wahlberechtigte - und kein einheitliches Wahlrecht. Mehr als 10 000 Gremien bundesweit, bundesstaatlich, regional und lokal sind allein für die Präsidentschaftswahl zuständig. Hinzu kommt, dass am Tag der Präsidentenwahl stets auch alle 435 Abgeordnete des Repräsentantenhauses, ein Drittel des 100-köpfigen Senats, Gouverneure und viele weitere Funktionen in den 50 Teilstaaten bestimmt werden.

Bei der Präsidentenwahl gibt es eine eingebaute Ungerechtigkeit: Wähler stimmen nur indirekt für ihren Kandidaten. Die Entscheidung liegt beim Kollegium der Wahlmänner und -frauen. Es zählt 538 Delegierte. Ins Weiße Haus zieht der Kandidat, der in diesem Gremium eine Mehrheit von mindestens 270 Stimmen erreicht.

Jeder Bundesstaat entsendet in dieses Electoral College so viele Delegierte, wie er Abgeordnete im Repräsentantenhaus und im Senat, den beiden Kammern des Kongresses in Washington, hat. Spätestens da beginnt das historisch erklärbare, aber demokratisch untragbare Dilemma: Zwar entsenden die Teilstaaten ins Repräsentantenhaus eine Abgeordnetenzahl abhängig von der Einwohnerzahl des Staates, in den Senat aber je zwei Mitglieder - egal, wie viele Menschen in einem Staat leben. Das bedeutet, der mit fast 40 Millionen einwohnerreichste Staat, Kalifornien, hat nicht mehr Vertreter als »Zwergstaaten« wie Wyoming (575 000) oder Norddakota (762 000).

Der Gewinner repräsentiert nicht unbedingt die Mehrheit

Die Zweierklausel für den Senat gründet auf der Verfassung von 1787. Sie sollte eine gleichberechtigte Vertretung ländlicher Staaten im Inneren gegenüber den boomenden Bundesstaaten an den Küsten sichern. Heute ist sie nur noch ein Anachronismus. Er führt dazu, dass im Electoral College ein Delegierter für Wyoming 190 000 Einwohner vertritt, ein Delegierter für Kalifornien mehr als drei Mal so viel, 680 000. Da die bevölkerungsarmen Staaten traditionell Hochburgen der Republikaner, die Metropolregionen an den Küsten solche der Demokraten sind, profitieren republikanische Kandidaten, diesmal Trump, von dieser Verzerrung.

Das Mehrheitswahlrecht verschärft das Demokratiedefizit enorm. Mit Ausnahme Maines und Nebraskas gilt es in allen Teilstaaten. Es beschert dem Präsidentschaftskandidaten, der in einem Staat die Mehrheit der Wählerstimmen gewinnt, die Stimmen aller Delegierten dieses Staates im Electoral College, während der Unterlegene komplett leer ausgeht. Vor vier Jahren hatte Hillary Clinton in Wisconsin nur ein Prozent weniger Stimmen als Trump, doch ihm fielen alle zehn Delegierten des Electoral College zu. Vergleichbar in Michigan und Pennsylvania. Am Ende machten in den drei Staaten ganze 77 744 Stimmen, 0,006 Prozent der 137 Millionen bundesweit abgegebenen Stimmen, den Unterschied. Sie sicherten Trump alle 46 Delegierte und die Präsidentschaft.

Die Ungerechtigkeit dieses Systems liegt auf der Hand - und führt neben grotesken Verdrehungen des Wählerwillens auch zur begrenzten Aussagekraft von Umfragen. Seit Wochen führt Biden in bundesweiten Polls teils zweistellig. Doch das muss mit Blick auf die entscheidende Kraft der Resultate in einzelnen Staaten nicht belastbar sein.

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Ähnlich begrenzt aussagekräftig sind die Gesamtwählerstimmen. Schon öfter holte ein Kandidat mehr Stimmen als sein Rivale und verpasste im Kollegium der Wahlmänner und -frauen dennoch die Mehrheit. So hatte Hillary Clinton 2016 mehr Stimmen als Trump, ins Weiße Haus aber zog er. Besonders knapp war die Wahl im Jahr 2000. Ihr bis heute strittiges Resultat gilt als eines der knappsten Ergebnisse. Es trug George W. Bush ins Amt - und Al Gore trotz gut einer halben Millionen Stimmen mehr ins Aus, nachdem Bush bei langer Nachzählung in Florida ganze 537 Stimmen vor Gore gelegen haben soll.

Auch 2016 konnte keine Rede davon sein, dass Trump mit einem Traummandat ins Amt gekommen war: Die Wahlbeteiligung betrug 55,7 Prozent. Auf ihn entfielen 46,1 Prozent, nicht mehr als 27 Prozent der Wahlberechtigten. Erdrutschsiege sehen anders aus.

Obwohl diverse weitere Besonderheiten den Wählerwillen verzerren, rückt vor allem eine Praxis die USA in die Nähe von Bananenrepubliken: die gezielte Errichtung von Hürden, um Wahlberechtigte abzuschrecken, ihr Grundrecht auszuüben. Besonders scharf trifft die Waffe der Wählerunterdrückung (»voter suppression«) Gruppen wie Arme, Schwarze und Menschen mit geringer Bildung. Dies namentlich in den Südstaaten, wo die Praxis entstand, wo der Bürgerkrieg zwar die Sklaverei, nicht aber die Benachteiligung beendete und wo die meisten Staaten republikanisch regiert werden.

17 Millionen Menschen aus den Wählerlisten entfernt

Ein Beispiel: Christine Jordan, Cousine von Martin Luther King, ist im November 2018, als Wahlen in Georgia anstehen, 92 Jahre alt. Wie in den 50 Jahren zuvor, seit die Bürgerrechtsbewegung das Wahlrechtsgesetz erkämpfte, das gleiche Beteiligung von Minderheiten gewährleisten soll, fährt die alte Dame zu ihrem Wahllokal in Atlanta. Da sich seit den letzten Wahlen an ihrem Personenstand nichts geändert hat, rechnet sie mit keinerlei Problem. Doch als sie wählen will, darf Christine Jordan nicht abstimmen. Sie stehe nicht im Register. Jordan ergeht es damit wie 17 Millionen anderen Bürgern, die in mehreren Bundesstaaten zwischen 2016 und 2018 aus den Wählerlisten entfernt wurden. Wie das Brennan Center an der New York University, eine Organisation zur Sicherung des Wahlrechts, weiter berichtete, haben Bundesstaaten in den vergangenen 20 Jahren »neue Hürden vor den Wahlurnen errichtet«: durch neue Ausweisvorschriften, verkürzte Öffnungszeiten von Wahllokalen, längere Wege zu ihnen, Beschränkungen zur Wählerregistrierung und »Bereinigung« von Wählerlisten.

Auch Donald Trump gestand, dass vor allem die Republikaner Schaden nähmen, würden die vielen Hürden beseitigt, die die Stimmabgabe erschweren. »Ich möchte gar nicht, dass jeder wählen geht«, sagt Paul Weyrich, republikanischer Aktivist. »Fakt ist, dass unser Einfluss in dem Maße steigt, in dem die Wahlbeteiligung sinkt.« Die USA, die das Wahlrecht als Grundstein ihrer Demokratie feiern, behandeln eine beängstigend große Zahl ihrer Wahlberechtigten wie Störgrößen. Oder wie Trumps Vorgänger Barack Obama erklärte: »Wir sind die einzige moderne Demokratie, die mit Vorsatz Menschen abschreckt, wählen zu gehen.«

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