• Politik
  • Corona und soziale Folgen

Neue Zumutungen

Der kommende Lockdown verlangt dem Land viel ab

Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ist in der Coronakrise stetige Mahnerin. Ende September warnte sie, die tägliche Zahl der Infektionen könne an Weihnachten bei 19 200 liegen, »wenn es so weitergeht«. Und es ging so weiter. Die Infektionszahlen liegen nun bereits knapp zwei Monate vor Heiligabend nicht mehr weit weg von Merkels Prognose.

Am Donnerstag, dem Tag nach der Entscheidung von Bund und Ländern, Deutschland für den November in einen »Lockdown light« zu schicken, meldete das Robert-Koch-Institut erneut über 16 000 neue Fälle. Ebenso steigt die Anzahl der Todesfälle, und Mediziner warnen seit einiger Zeit davor, dass sich die Intensivstationen mit Covid-19-Patienten füllen. »Es ist jetzt schon nachweislich schlimmer als im Frühjahr«, sagte Uwe Janssens, Präsident der Deutschen Interdisziplinären Vereinigung für Intensiv- und Notfallmedizin am Donnerstag. »In 14 Tagen haben wir die schweren Krankheitsfälle, und unsere großen Zentren kommen unter Maximalbelastung.« Für die Mahnerin Merkel blieb da konsequenterweise keine andere Option als die Notbremse zu ziehen.

Die Eindämmung des Coronavirus - und der erneute Herbst-Anstieg

Auch in der Bevölkerung scheint die Bereitschaft, bei den Anti-Corona-Maßnahmen mitzuziehen, auch nach Monaten der mal mehr, mal weniger starken Einschränkungen noch nicht deutlich erlahmt zu sein. Noch am Tag der neuerlichen Lockdown-Entscheidung wies eine Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov aus, dass 57 Prozent der Befragten das Krisenmanagement der Bundesregierung eher positiv bewerten. 36 Prozent erklärten, sie seien eher unzufrieden. Ähnliche Umfragen zeichnen ein ähnliches Stimmungsbild.

Explodierende Infektionszahlen, ein Land, das nach wie vor prinzipiell offen ist auch für stark einschränkende Schutzmaßnahmen - die Akzeptanz für den neuerlichen Lockdown also kein Problem? Doch. Denn das Herunterfahren des öffentlichen Lebens trifft nicht wie noch beim ersten Mal auf eine Gesellschaft und Wirtschaft, für die es - bei aller notwendigen Kritik etwa an der wachsenden sozialen Ungleichheit - im Grunde seit vielen Jahren nicht schlecht lief. Die verschont geblieben waren von existenziellen Verwerfungen. Der neue Lockdown aber trifft nun auf Menschen, die seit Monaten um ihr ökonomisches Überleben kämpfen. Die vielleicht zermürbt sind vom Verlust der gewohnten und den Anstrengungen der »neuen Normalität«. Die sich vor allem dank der mittlerweile erlangten Kenntnisse der Wissenschaft, dem zum Teil äußerst kontrovers geführten Diskurs darüber und der ausführlichen Berichterstattung über die Entwicklungen der Pandemie hierzulande und im Rest der Welt unvergleichlich mehr Wissen über Covid-19 aneignen konnte als dies noch zu Beginn der Coronakrise der Fall war.

So ist dieses Land heute weit entfernt vom Schockzustand des Frühjahrs, als eine schnelle politische Reaktion das Gebot der Stunde war und als die getroffenen Maßnahmen noch einem Experiment glichen, von dem niemand so recht wusste, wie es ausgeht. Als keine Zeit schien für lange Debatten und keine Zeit war, die gewohnten demokratischen Entscheidungswege zu gehen oder zunächst Konzepte auszuklügeln und dann zu handeln.

Umso mehr erscheint nun die Zeit der relativen Entspannung im Sommer als vertan. Stichwort: Digitalisierung, neue Normalität, Leben mit dem Virus. Beispiel 1: CDU-Parteitag. Da gelingt es der Kanzlerinnenpartei in mehreren Monaten nicht, ein Konzept zu entwickeln und rechtliche Rahmenbedingungen zu schaffen, die es ermöglichen, auch unter Krisenbedingungen einen neuen Vorsitzenden zu bestimmen. Welch ein Widerspruch zwischen Anspruch, gar dem, was dieser Gesellschaft abverlangt wird und eigener Wirklichkeit!

Beispiel 2: Bis heute ist der Politik nicht gelungen, ihre Entscheidungsprozesse in Sachen Anti-Corona-Maßnahmen aus dem anfänglich praktikablen Krisenmodus zu holen und sie auf ein für eine Demokratie unverzichtbares parlamentarisches Fundament zu gründen.

Wenig hilfreich für die Akzeptanz der nun entschiedenen Maßnahmen erscheint es zudem, dass diese voller augenfälliger Widersprüche stecken, die vor allem für die Betroffenen schwer auszuhalten sein dürften. So merkt etwa der Jurist Rolf Gössner an: »Einzelne der beschlossenen gravierenden Maßnahmen dürften im Übrigen unverhältnismäßig sein - genauer: gegen den Verfassungsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit verstoßen.« Dies gelte etwa »für die bundesweite Schließung von Gastronomiebetrieben, von Kulturbetrieben wie Theatern, Konzerthäusern und Kinos sowie für das einmonatige Verbot sämtlicher Unterhaltungsveranstaltungen«, so Gössner.

Diese Maßnahmen basierten »auf einer dünnen, vollkommen ungesicherten Datenbasis, zumal die meisten Infektionsquellen bislang ohnehin nicht nachvollzogen und identifiziert werden können«. Bislang gebe es schlichtweg »keinerlei Hinweise oder gar Beweise dafür, dass sich etwa Restaurants, Theater oder Kinos als Infektionsherde herausgestellt hätten - im Gegenteil: Sie spielen auch laut RKI in dieser Hinsicht kaum eine Rolle.« Der Bürgerrechtsaktivist kommt zu dem Schluss: »Eine Schließung dieser Lokalitäten und Spielstätten ist deshalb nicht zu rechtfertigen - zumal dort strenge Hygienekonzepte um- und durchgesetzt werden.«

Dieser Lockdown und sein Zustandekommen, sie verlangen dem Land viel ab, wenn auch bei aller Einsicht in die Notwendigkeit eines energischen Handelns gegen die Covid-19-Pandemie weitaus mehr Zweifel angesagt zu sein scheinen als das Handeln der politisch Verantwortlichen Hoffnungen auf ein gutes Ende wecken. Gössner formuliert es so: »Die meisten der am Mittwoch beschlossenen, tief in das private Leben der Bevölkerung eingreifenden Maßnahmen scheinen hilflos und wenig begründet, sind weder transparent noch wirklich nachvollziehbar«.

Zudem sollten diese, »wie schon seit Monaten, weitgehend ohne parlamentarische Debatte und ohne parlamentarische Beschlussfassung durch die Exekutive in Bund und Ländern per Verordnungen durchgesetzt werden«, so Gössner. »Dies ist meines Erachtens angesichts der massiven Eingriffe in elementare Grundrechte und Lebensbereiche verfassungsrechtlich höchst zweifelhaft, zumal diese Eingriffe mit schwerwiegenden sozialen, psychisch-gesundheitlichen und wirtschaftlichen Auswirkungen und Langzeitschäden verbunden sind«.

Werde Mitglied der nd.Genossenschaft!
Seit dem 1. Januar 2022 wird das »nd« als unabhängige linke Zeitung herausgeben, welche der Belegschaft und den Leser*innen gehört. Sei dabei und unterstütze als Genossenschaftsmitglied Medienvielfalt und sichtbare linke Positionen. Jetzt die Beitrittserklärung ausfüllen.
Mehr Infos auf www.dasnd.de/genossenschaft

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal