nd-aktuell.de / 11.11.2020 / Kultur / Seite 9

Keineswegs nur die zweite Violine

»Friedrich Engels - Aktualität eines Revolutionärs«. Notizen von einer Online-Konferenz

Karlen Vesper

Voller Bewunderung ist Frank Deppe für Karl Marx und Friedrich Engels: »Was für Giganten, die ohne Computer unendlich viele kluge Dinge gelesen und geschrieben haben. Es ist unfassbar.« Der Marburger Politologe hielt den Impulsvortrag zur Konferenz »Friedrich Engels - Aktualität eines Revolutionärs« anlässlich zu dessen bevorstehendem 200. Geburtstag. Sie sollte am 7. November, am Jahrestag der Oktoberrevolution der russischen Bolschewiki, in Wuppertal stattfinden, musste jedoch coronabedingt ins World Wide Web verlegt werden. Keineswegs zu deren Nachteil, dürfte sie doch dadurch eine größere Aufmerksamkeit erfahren.

Deppe erinnerte sich an ein Gespräch mit seinem Lehrer Wolfgang Abendroth, der Engels besonders schätzte, da dieser in seinen Schriften die Gedanken von Karl Marx für Arbeiter verständlich aufbereitet habe. Der Referent verteidigte den Jubilar gegen die ewigen Vorwürfe, jener habe Marxens komplexes, kolossales Theoriegebäude zu einem platten Weltanschauungsmarxismus degradiert, der im 20. Jahrhundert zu einer Legitimationsideologie verkommen sei. Deppe freute sich über neue Publikationen, die den Nachweis erbringen, dass der große Sohn Wuppertals keineswegs die zweite Violine im Duo Marx und Engels gespielt habe, auch wenn Letzterer dies von sich selbst behauptet hatte.

Das Vorstandsmitglied der Rosa-Luxemburg-Stiftung, deren nordrhein-westfälische Filiale zusammen mit der Wuppertaler Marx-Engels-Stiftung und der Heinrich-Jung-Stiftung die Konferenz ausrichtete, führte ein Beispiel von Engels’ weitsichtigen Analysen an: Schon in der 1848er Revolution sah der seinerzeit an vorderster Front publizistisch wie dann auch mit der Waffe in der Hand kämpfende Kaufmannssohn einen künftigen Weltkrieg voraus, vom preußisch geführten Deutschland entfesselt, in dem acht bis zehn Millionen Soldaten sterben und Europa schlimmer als im Dreißigjährigen Krieg verwüstet werde, der zu einer »Verwilderung der Heere und der Volksmassen«, allgemeinem Staatenbankrott und Sturz von Monarchien führen werde. Die Prophezeiung traf ein. Der damit von Engels erhoffte Sieg der Arbeiterklasse über Kapitalismus und Militarismus war indes ein zeitweiliger.

Deppe war es wichtig, Zuversicht wider das Gerede vom »Ende der Geschichte« nach dem Scheitern des ersten sozialistischen Anlaufs zu stiften. »Es kommt darauf an, dass wir die Geschichtsdebatten selbstbewusst und offensiv führen«, forderte er die Linken auf. Dem von oben verordneten Geschichtsbild sei erlebte und erfahrene Geschichte von unten entgegenzusetzen. Hierfür könne Engels, der nach Abendroth im Vergleich zu Marx auch der bessere Historiker gewesen sei, wertvolle Anregungen geben.

Sechs Anregungen im Engelsschen Werk hat Nicole Mayer-Ahuja, Professorin für Arbeitssoziologie und Direktorin des Soziologischen Forschungsinstituts Göttingen, entdeckt: sorgfältige Empirie zwecks einer Klassenanalyse, die mit der kapitalistischen Entwicklung und Dynamik Schritt halten und ebenso die stetig neuen Fragmentierungen der Arbeiterklasse sowie deren dennoch grundsätzlichen Gemeinsamkeiten erkennen muss, um Spaltungstendenzen zu überwinden, Mobilisierung und Organisierung zu befördern. Das Subjekt der Geschichte bei Engels sowie Arbeiterklasse und Lohnabhängige heute war das Thema des ersten Panels der Konferenz, bei dem konträre Wertungen nicht zu überhören waren.

Klaus Dörre beklagte »beharrende Interessen« der etablierten Gewerkschaften und deren Ignoranz gegenüber neuen Zusammenschlüssen, wie er es beispielsweise in Portugal erlebte, als ein Vertreter der großen Metallgewerkschaft wenig Verständnis für einen Kollegen aufbrachte, der die in Call-Centern ausgebeuteten Beschäftigten vertritt. Der Soziologieprofessor an der Universität Jena verwies darauf, dass man auch hier von Engels lernen könne, der neuen Organisationsformen offen gegenüber stand, »sehr undogmatisch« war und eigene Analysen über Bord warf, so sie nicht mehr der Realität entsprachen. Dies bezeugen dessen verschiedene Vor- und Nachworte. Auch Joachim Bigus, Werkzeugmacher und Sprecher der IG Metall-Vertrauensleute bei VW Osnabrück, ist beeindruckt von der Fähigkeit von Engels wie auch Marx, Urteile zu revidieren, wenn diese sich als als falsch erwiesen. Für Nihat Öztürk von der IG Metall Düsseldorf-Neuss sind vor allem jene Passagen in Engels’ Studie »Zur Lage der arbeitenden Klasse in England« interessant, die sich mit den irischen Einwanderern beschäftigen. Sie seien auch noch für die heutige Migrationsdebatte nützlich.

Eva Bockenheimer, Philosophin in Köln, empfindet Engels’ Schrift vom »Anteil der Arbeit an der Menschwerdung der Affen« als »augenscheinlich aktuellsten Text«, weil dort bereits »auf verblüffende Weise« die Zerstörung der Natur durch die kapitalistische Produktionsweise problematisiert und die Notwendigkeit betont werde, solche Produktionsverhältnisse zu schaffen, in denen der Mensch im Einklang mit seiner Umwelt leben kann. Das zweite Panel debattierte das Thema »Klassenfrage - Naturverhältnis - Geschlechterverhältnis«. Ingar Solty bestätigte Engels’ Sensibilität für Nachhaltigkeit und würdigte zugleich dessen Befreiungsperspektive vom Patriarchat, wie er sie vor allem in »Der Ursprung der Familie, des Privateigenthums und des Staats« formuliert hat. Der Sozialwissenschaftler bei der RLS Berlin stellte eine steile These auf: »Man müsste eigentlich sagen, dass Marx auf den Schultern von Engels steht.« Und zwar nicht nur ob dessen materieller Unterstützung der Familie des Freundes und auch der Popularisierung von Marxens Werk; Engels sei gar - wie schon Karl Kautsky meinte - der »breiter aufgestellte Denker« gewesen.

Ellen Brombacher von der Kommunistischen Plattform in der Partei Die Linke rundete die Konferenz ab, indem sie ähnlich wie Deppe nach der schmählichen Niederlage der Linken 1990 zu einem neuen Aufbruch ermunterte. »Der gewesene sozialistische Versuch war nicht so, wie seine Feinde behaupten und auch nicht so, wie wir gedacht haben.« Und: Das gegebene System könne nicht die letzte Antwort der Geschichte sein.

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