Vermessene oder vergessene Zeit?

Die einst radikale Linke Ingrid Strobl hat ein »Knast«-Buch mit etlichen Ambivalenzen verfasst

  • Gerhard Hanloser
  • Lesedauer: 5 Min.

Es ist wohl der berühmteste Wecker der deutschen Nachkriegsgeschichte, den Ingrid Strobl 1986 kaufte und der als Zeitzünder für einen Sprengstoffanschlag der Revolutionären Zellen auf ein Lufthansa-Gebäude in Köln im gleichen Jahr genutzt wurde. Die aufwändige Fahndung des Bundeskriminalamtes führte eher zufällig zur Identifizierung der Käuferin. Dem folgte ein Prozess, der keineswegs »kafkaesk« war, wie die Autobiografin kokettierend schreibt, sondern mit Anklageschrift, Umschluss, Anwaltsbetreuung, Revisionsverfahren durchaus rational und transparent. Tatsächlich genügte es ab den 70ern, jemandem seinen Pass zur Verfügung zu stellen, um jahrelang hinter Gitter zu gelangen. Der Paragraf 129a des Strafgesetzbuches macht’s - bis heute - möglich.

Die 68-Jährige Strobl will nun endlich jenen, die solidarisch mit ihr waren und die sie belogen hatte, die Wahrheit erzählen. Bis dato hat sie hartnäckig geleugnet, gewusst zu haben, wofür der Wecker verwendet werden sollte. Ist der jetzige Offenbarungseid glaubwürdig? Jede individuelle Erzählung von Menschen, die in der Bundesrepublik die Ideen der antiautoritären Fundamentalopposition von 1968 militant und illegal weiterführen wollten, könnte Material für erneute Strafverfahren bieten. Daraus resultieren berechtigte oder unberechtigte Verratsvorwürfe von Seiten derer, die auf welche Weise auch immer involviert waren.

Ingrid Strobl arbeitet 1979 bis 1986 als Redakteurin und später freie Autorin für »Emma«. Die von Alice Schwarzer herausgegebene Zeitschrift organisierte nach Strobls Verhaftung eine Solidaritätskampagne. Heute klagt Schwarzer, jene habe ihre Kolleginnen bei »Emma« in Gefahr gebracht und spiele sich ungerechtfertigt in der linken Szene als »ganz große Heldin« und »politische Gefangene« auf: »Ich verachtete sie auch für ihren ganzen Selbstbetrug und ihre Verlogenheit.« Harte Worte, gesprochen wohl eher von der staatstragenden Bundesverdienstkreuzträgerin als von der ehemals solidarischen Feministin.

Strobl versucht in ihrer Autobiografie zumindest Geschehnisse jenseits von wohlfeilen Konstrukten zu präsentieren, indem sie zwei Zeitebenen und Schrifttypen wählt, bei denen die eine Textform die andere auf Authentizität befragt. Das ist nicht schlecht, doch kalkulierte Geheimnisse gibt es in diesem Buch immer noch. Wie verhält es sich mit dem ominösen Mister X, für den sie laut Prozessaussage den Wecker gekauft hat? Strobl behauptete, nicht gewusst zu haben, dass jener den Wecker für einen Anschlag benutzen wollte. Heute räumt sie das Gegenteil ein, ohne die Diskrepanz zu reflektieren.

Gemessen an anderen Erfahrungsberichten aus der militanten Linken, etwa von Lutz Taufer, Inge Viett, Karl Heinz Dellwo oder Till Meyer, betreibt Strobl unter der Hand eine Entpolitisierung der Revolutionären Zellen. Als Motiv des Weckerkaufs fällt ihr nur noch »Hass« ein, obwohl sie nach wie vor eine antirassistische, antisexistische und antipatriarchale Grundhaltung bekundet. Sie vermeidet es heute, den Anschlag auf das Lufthansa-Gebäude in Köln in den Zusammenhang antirassistischer und antisexistischer Praxis zu stellen, wie in Papieren der Revolutionären Zellen begründet. Zwar schreibt sie von der Empörung über die »Bumsbomber« der Lufthansa, die deutsche männliche Touristen für gutes Geld an Orte des Sextourismus bringen und zugleich Teil der deutschen Abschiebemaschinerie sind, scheint aber die politischen Beweggründe der einstigen Aktionen Revolutionären Zellen nicht mehr nachvollziehen zu können. »Hass trieb mich an, ich verstehe das nicht mehr«, schreibt sie schlicht und bleibt damit unter ihren intellektuellen Fähigkeiten. Man vermisst auch die linksradikalen Debatten um Internationalismus, Patriarchatskritik, befreiende und unterdrückende Gewalt. Die wenigen Bemerkungen zur irischen IRA sind aufs Persönlichste reduziert.

Lesenswert ist die Darlegung der Recherchearbeit zu ihren Bestsellern über Frauen im jüdischen Widerstand. Schon vor ihrer Verhaftung Ende Dezember 1987 hatte sie sich hierfür interessiert. 1993 übersetzte sie Chaika Grossmanns Autobiografie »Die Untergrundarmee. Der jüdische Widerstand in Bialystok« und versah sie mit einem Vorwort. Es ist ihr Verdienst, ein größeres Publikum - weit über die linke und feministische Szene hinaus - mit Frauenwiderstand vertraut gemacht zu haben. Aber auch dies bleibt in ihrem Buch merkwürdiger Weise von ihrer einstigen Aktivismus abgetrennt. Nicht wenige, die mit der Geschichte der Revolutionären Zellen vertraut sind, glauben, dass Strobls leidenschaftliche Beschäftigung mit jüdischen Biografien im Kontext zur Flugzeugentführung von Entebbe 1976 steht, in deren Zuge es zu einer Selektion von israelischen Passagier*innen kam. Beteiligt waren zwei Deutsche der Revolutionären Zellen, unter den Opfern befanden sich Holocaustüberlebende.

Strobl schreibt an verschiedenen Stellen von »Verdrängung«, ohne auszuweisen, was sie verdrängt haben könnte. Sie spart ihr Verhältnis zu linksradikalem Antizionismus und (Vorwürfen des) Antisemitismus vollkommen aus. Ab Anfang der 90er Jahre hatte sich ein Teil der radikalen Linke mit diesem Komplex der eigenen Geschichte auseinanderzusetzen begonnen. Strobl war eine Protagonistin an dieser Diskursfront. Sie sprach 1994 in einem Vortrag in der Roten Fabrik Zürich vom »unbegriffenen Erbe«, dass auch Linke antisemitisch geprägt seien und die neue deutsche Linke »zusätzlich zu dem quasi ererbten ›bürgerlichen‹ Antisemitismus den als Antizionismus verkleideten Antisemitismus Stalins und seiner Nachfolger« übernommen habe. Diesen Vorwurf machte sie sich damals auch sich selbst. In diesem Buch: Fehlanzeige.

Bei aller Kritik ist »Vermessene Zeit« ein starkes Buch. Es zeigt Ambivalenzen auf. Strobl reflektiert in Ansätzen, dass andere Gefangene (hauptsächlich der RAF) weit härteren Haftbedingungen ausgesetzt waren als sie. Sie pocht nicht mehr auf ihren Status als »politische Gefangene«. Bewegend sind ihre Auslassungen über weibliche Mitgefangenen, die ihrer gewalttätigen Männer ermordet hatten, oder auch Junkies, die auf den Strich gingen und ihrem Freiern oder Zuhältern sklavisch ergeben blieben. Beschrieben wird die Solidarität untereinander. Aber auch Fremdheit. Verwahrlosung, mangelnde Hygiene, fehlende Selbstdisziplin sowie die schnulzigen Schlager, die mitgefangene Frauen zuweilen hörten, nervten die der Klassik frönende Strobl.

Wer die Autorin aus den frühen 90er Jahre als eine moralisierende Zeitgenossin kennt, glaubt hier eine völlig andere Frau vor sich zu haben. Vermessene Zeit? Oder vergessene Zeit? In einem scheint Ingrid Strobl sich treu geblieben zu sein - ein Charakterzug der militanten Linken der 80er/90er Jahre: verbissene Humorlosigkeit. Vielleicht erfährt man in diesem Buch auch deshalb nichts von der aktenkundigen Geschichte, wonach Ingrid Strobl ein knappes Jahr vor ihrer Verhaftung von einer mit einem Polizeibeamten verheirateten Frau gewarnt worden war, dass gegen eine »Emma«-Redakteurin ermittelt würde, die einen Wecker für die Revolutionären Zellen gekauft habe.

Ingrid Strobl: Vermessene Zeit. Der Wecker, der Knast und ich. Edition Nautilus, 192 S., br., 18 €.

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