nd-aktuell.de / 17.11.2020 / Sport / Seite 16

Vereint in Ehrfurcht

Deutschlands und Spaniens Fußballer treffen sich in der Nations League

Frank Hellmann

Luis Enrique und Joachim Löw haben dieselbe unliebsame Erfahrung hinter sich: Zehn Monate ohne Länderspiel, das nagt an jedem Nationaltrainer. Immer nur im Homeoffice Videos schauen und sich mit den Analysten beraten, welche Sequenz in der Datenbank abgespeichert wird. Das nervt auf Dauer. So muss die Pandemie auch an den Nerven der beiden Nationaltrainer gezehrt haben, die dann Anfang September im ersten Länderspiel nach der Zwangspause in Stuttgart aufeinandertrafen. Enrique trieben damals offenbar ähnlich grundsätzliche Gedanken um wie Löw. »Um ehrlich zu sein, es ist schwierig, sich etwas Schlimmeres vorzustellen als das, was bereits geschehen ist«, sagte er zu den Auswirkungen auf die Gesellschaft und den Fußball. Was fast so fatalistisch klang wie Löw, der zu Beginn der Krise die bemerkenswerte Feststellung traf: »Die Welt hat einen aktuellen Burnout erlebt.«

Aktuell beschäftigen sich die beiden wieder mit so irdischen Dingen wie dem letzten Spieltag einer Nations-League-Gruppe, in der sowohl Spanien als auch Deutschland vor dem Showdown am Dienstagabend in Sevilla noch Gruppensieger werden könnten. Der DFB-Auswahl reicht im Corona-Hotspot Andalusien ein Remis. Ob es wirklich ein erstrebenswertes Ziel ist, im Oktober 2021 ein Final-Four-Turnier auszuspielen - und dafür terminlich in der WM-Qualifikation unter Druck zu geraten - ist nachrangig. Löw will einen mutigen Auftritt seiner Mannschaft sehen. »Wir spielen in Spanien nicht auf einen Punkt«, lautet sein Versprechen. Immerhin hat Deutschland seit 1988 kein Pflichtspiel gegen Spanien mehr gewonnen, Rudi Völler gelang damals im EM-Gruppenspiel in München ein Doppelpack.

Wenn es um die nächste Europameisterschaft geht, stehen Deutschland und Spanien als Favoriten nicht ganz vorn. Weltmeister Frankreich, Belgien, sogar England werden höher gehandelt. Die Weltrangliste führt die Spanier auf Rang acht, Deutschland gar nur auf Platz 14. Die Weltmeister von 2010 und 2014 sind nicht mehr absolute Weltspitze, was nichts an ihren Verdiensten für den europäischen Fußball ändert. So erklärt sich vielleicht, warum die Rivalität gar nicht so ausgeprägt ist - es schwingt viel Respekt, fast Ehrfurcht über den anderen mit.

Nach einer sportlich ernüchternden WM 2006 in Deutschland - hierzulande ja vor allem wegen der Stimmungslage zum Sommermärchen erklärt - machten sich zuerst die Spanier daran, den von Italien errungenen Triumph der Defensive in eine ansehnlichere Spielart zu überführen. Die EM 2008 in Österreich und der Schweiz bot einen Vorgeschmack darauf, was kommen sollte: Xavi, Iniesta und ihre Spielgefährten ließen das deutsche Ensemble im Finale von Wien kaum an den Ball kommen. Kapitän Michael Ballack war danach so wütend, dass er sich weigerte, ein Dankesplakat durchs Praterstadion zu tragen.

Löw merkte früh, dass es eine neue Handschrift und anderes Personal bräuchte, um seine Philosophie umzusetzen. Die Spanier traf er schon im WM-Halbfinale 2010 wieder. Eine unverbrauchte DFB-Auswahl hatte zuvor erst Argentinien, dann teilweise England schwindlig gespielt - doch der Rausch hatte etwas Trügerisches. Das Duell im südafrikanischen Durban zeigte, was noch fehlte. Wieder musste Löw dem verehrten Kollegen Vicente Del Bosque zu einem 1:0-Erfolg gratulieren. »Tiki-Taka« wurde Weltmarke - und Spanien 2010 Weltmeister und 2012 Europameister. Wobei Löw mit seinem taktischen Irrtum im EM-Halbfinale 2012 gegen Italien ein weiteres Aufeinandertreffen mit den Kombinationskünstlern vergeigte.

Doch seine Zeit sollte ja noch kommen: 2014 bei der WM waren die Ballstafetten eines überalterten spanischen Ensembles zum Selbstzweck verkommen. Das deutsche Team hatte die bessere Mischung. Sie ließ im Halbfinale Gastgeber Brasilien öfter den Ball und häufiger aufs Tor schießen - und gewann bekanntlich 7:1. Auf einmal schaute Spanien neidisch auf den Weltmeister aus Deutschland. Del Bosque hing schwer in den Seilen, musste aber erst nach der EM 2016 abtreten.

Bei der WM 2018 verspielten die beiden Großmächte endgültig ihren Führungsanspruch. Spanien ging im Achtelfinale in die Knie, Deutschland erlebte mit dem Vorrundenaus einen historischen Tiefpunkt. Mittlerweile sind die Teams aber aus der Talsohle herausgekrabbelt und sehen sich gar nicht so unähnlich. Um einige wenige Veteranen mit immenser Erfahrung - Sergio Ramos oder Sergio Busquets hier und Manuel Neuer oder Toni Kroos dort - hat sich eine interessante Gruppe gebildet. Ferran Torres, Daniel Olmo oder der derzeit verletzte Ansu Fati, Serge Gnabry, Leroy Sané oder der an Corona erkrankte Kai Havertz heißen die Hoffnungsträger der beiden Fußballnationen. Die Frage ist nur, wie die hoch belasteten spanischen und deutschen Spitzenspieler in Europas Topvereinen durch eine Saison kommen, die auf nichts und niemanden Rücksicht nimmt. Und in der nicht mal sicher ist, ob die nächste EM mit den Spielorten Bilbao und München in der geplanten Form zur Austragung kommt.