Wem gehört die Stadt? Und warum?

Architekturpolitik und Politik durch Architektur. Ein Rundgang

  • Mario Pschera
  • Lesedauer: 4 Min.

Vom jemütlich’n Heinrich Zille stammt der wenig gemütliche Satz: »Man kann mit einer Wohnung einen Menschen genauso töten wie mit einer Axt.« Der 1858 im sächsischen Radeburg geborene Zille wusste, wovon er sprach. Als die Familie 1868 vor den Schuldeneintreibern nach Berlin flüchtete, kam sie in einer schäbigen Kellerwohnung unter. Heinrichs erste eigene Wohnung war ebenfalls eine im Keller, bis er nach neun Jahren endlich mit Frau und Kindern eine Dreizimmerwohnung mieten konnte. In Berlin drängte sich die zugezogene Landbevölkerung, das neue Industrieproletariat, in den Mietskasernen - hochinteressante Investitionsobjekte, wie zeitgenössische Inserate sie anzupreisen wussten. Es war ein Kreuz mit der Wohnungsfrage, sie beschäftigte Stadtplaner, Sozialpolitiker und nicht zuletzt die Betroffenen selbst bereits im frühen 19. Jahrhundert. Paris etwa wurde seines »Bauches« beraubt, die alten Viertel der unhaltbaren hygienischen Zustände wegen abgerissen; breite Straßen sollten die Stadt im wahrsten Sinne des Wortes durchlüften. James Hobrecht erfand die soziale Durchmischung der modernen Stadt. Mit der Industrialisierung des Städtebaus wuchsen die architektonischen Träume gen Himmel.

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Harald Bodenschatz und Thomas Flierl (Hg.):

Von Adenauer zu Stalin. Die Tätigkeit des Kölner Stadtplaners Kurt Meyer in Moskau und der Einfluss des traditionellen deutschen Städtebaus in der Sowjetunion um 1935
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Christoph Bernhardt, Thomas Flierl, Max Welch Guerra (Hg.):

Städtebau-Debatten in der DDR. Verborgene Reformdiskurse
264 S., kt., 22 €
Evgenija Konyševa, Mark Meerovič:

Linkes Ufer, rechtes Ufer.
Ernst May und die Planungsgeschichte von Magnitogorsk (1930-1933)
280 S., kt., 22 €

Thomas Flierl (Hg.):
Der Architekt, die Macht und die Baukunst. Hermann Henselmann in seiner Berliner Zeit. 1945-1995
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Berlin plant. Plädoyer für ein Planwerk Innenstadt Berlin 2.0
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Nach dem Ersten Weltkrieg schien die Zeit reif. Insbesondere in der jungen Sowjetunion bot sich ein reiches Betätigungsfeld. Ab 1929 wurde eine Vielzahl ausländischer Spezialisten eingeladen, die Moderne in die technologische Tat umzusetzen. »Von Adenauer zu Stalin. Die Tätigkeit des Kölner Stadtplaners Kurt Meyer in Moskau und der Einfluss des traditionellen deutschen Städtebaus in der Sowjetunion um 1935« widmet sich den Protagonisten des Neuen Bauens, insbesondere dem Wirken Kurt Meyers, einer der Väter des modernen Moskaus. Meyer setzte auf eine radial-ringförmige Stadtstruktur, ein ausgewogenes Verhältnis zwischen Arbeiten und Wohnen; Licht, Luft und Grün - Faktoren, die bereits Architekten in Weimar, Frankfurt und Hannover zur Leitschnur ihres Bauens gemacht hatten. Doch unbeschwert war die Zeit nicht für die deutschen Spezialisten, zu groß waren die bürokratischen Gängelungen. In einem schon paranoiden Klima kündigten sich die »Säuberungen« an. Kurt Meyer wurde 1936 der Prozess gemacht, er starb 1944 in einem Straflager.

Mehr Glück hatte der Architekt Ernst May, der nach drei Jahren Tätigkeit 1933 die Sowjetunion verließ, dann 20 Jahre in Ostafrika arbeitete, ehe er nach Deutschland zurückkehrte und erst 1959 die Sowjetunion besuchte, um festzustellen, dass seine engsten russischen Mitarbeiter die Stalinzeit nicht überlebt hatten. »Linkes Ufer, rechtes Ufer. Ernst May und die Planungsgeschichte von Magnitogorsk (1930-1933)« beleuchtet das ideologische Minenfeld, auf dem sich Städteplaner und Architekten bewegten. Anhand der entstehenden »Sozgorod«, der sozialistischen Musterstadt Magnitogorsk - wo von Mays Plänen nur der erste Bauabschnitt realisiert wurde - lässt sich nachvollziehen, wie oft weniger nach einem Führerplan Entscheidungen gefällt wurden, sondern erbitterte Machtkämpfe in der Partei konkrete Auswirkungen auf den Städtebau hatten (Gleiches galt für die bildenden Künste und die Literatur). Dabei vergab sich die Sowjetunion die Chance, konsequent die Idee von der menschenfreundlichen modernen Stadt zu verwirklichen. Zugleich wurde die Moderne ihres Bauplatzes beraubt und geriet von rechts wie links unter Verdacht. Erst ab den 70er Jahren wurden Bauhaus und Co. nach und nach wieder salonfähig, wie sich unter anderem in »Städtebau-Debatten in der DDR. Verborgene Reformdiskurse« ausführlich nachlesen lässt.

Dass Städtebau eine eminent politische Frage ist, eine Aushandlung von gesellschaftlichem Bedarf, staatlichem Repräsentationsbedürfnis und Renditeerwartungen, lässt sich nicht nur an den Kämpfen um den Berliner (und Münchner) Mietendeckel oder der Vielzahl verödeter Innenstädte ablesen. Symptomatisch sind die Entwicklungen, die in »Berlin plant. Plädoyer für ein Planwerk Innenstadt Berlin 2.0« und »Berlin - Die neue Mitte. Texte zur Stadtentwicklung seit 1990« diskutiert werden. Funktionalität muss oft genug ideologisch verbrämten wirtschaftlichen (Einzel-)Interessen weichen, gelegentlich wird die Gemengelage als Bausumpf bezeichnet.

Wie politische Konjunkturen das Stadtbild prägen, lässt sich geradezu vorbildhaft anhand des »Architekturführers Moskau« nachvollziehen, der die verschiedenen Etappen vorstellt und die Auswirkungen der ideologischen 180-Grad-Wende nach 1990 nicht ausspart - die obszöne Verbindung von Retro-Imperialität und Ultrakapitalismus.

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