nd-aktuell.de / 28.11.2020 / Politik / Seite 20

Nur der Obelix für Asterix?

Ohne Friedrich Engels würde es den Marxismus nicht geben.

Ingar Solty

Warum sollte man heute noch Friedrich Engels lesen? Warum sollte man seiner anlässlich seines 200. Geburtstages im November 2020 gedenken, ihn sogar nutzbar machen für das Denken der Gegenwart und Zukunft? Für manche scheint Friedrich Engels kaum mehr zu sein als Dr. Watson für Sherlock Holmes in Arthur Conan Doyles Kriminalromanen, als Sancho Pansa für Don Quixote in Cervantes’ berühmten Roman, als Leo Jogiches für Rosa Luxemburg oder Obelix für Asterix in den berühmten französischen Comics. Ist Engels mehr als ein Sidekick in der Geschichte des Sozialismus? Mehr als einer, der dem eigentlichen Helden hier und da, vor allem finanziell, aus der Patsche hilft oder - wie in Raoul Pecks Erfolgsfilm »Der junge Karl Marx« dargestellt - mit ihm saufen geht, bis kurz vor dem trunkenen Erbrechen diesem dann die Idee zur elften Feuerbachthese kommt: »Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert; es kömmt drauf an, sie zu verändern.«

Karl Marx gilt zu Recht als der große Denker und Revolutionär mit weltgeschichtlicher Bedeutung. Der griechisch-französischer Politologe Nicos Poulantzas schrieb 1977 über ihn: »Seit Max Weber ist jede politische Theorie entweder ein Dialog mit dem Marxismus oder sie greift ihn offen an.« Aber was ist mit Engels? Jahrzehntelang gehörte Engels ganz selbstverständlich zur Trias oder zum Viergestirn jener aus siegreichen, sozialistischen Revolutionen hervorgegangenen Staaten der Welt, die sich auf das Marx’sche Erbe bezogen und es im Marxismus-Leninismus zu einer Doktrin werden ließen: Marx, Engels, Lenin, Stalin, zu dem in China noch Mao hinzugesellt wurde.

Den Zusammenbruch des Staatssozialismus erlebten viele Marxologinnen und Marxologen als intellektuelle Befreiung. Man glaubte nun, leichter zum authentischen Erbe von Marx zurückkehren zu können und es (im Rahmen des unter anderen Bedingungen fortgeführten Projekts der Marx-Engels-Gesamtausgabe, kurz: MEGA) historisch-kritisch und mit philologischer Genauigkeit aufarbeiten zu können. Es begann ein neues Kapitel in der Auseinandersetzung mit dem Werk von Marx und Engels, unabhängig von ihrer parteipolitischen Indienstnahme im »kurzen zwanzigsten Jahrhundert« (Eric Hobsbawm). Die Hoffnung und das Ziel waren es, den Marxismus von seiner angenommenen Vulgarisierung als »Weltanschauungsmarxismus« zu befreien, der zur Legitimierung des Sozialismusversuchs nach dem sowjetischen Modell diente. Nun schien der Weg endgültig frei für die schon in den 1970er Jahren proklamierte »Neue Marx-Lektüre«. In der neuen Lesart der Marx-Engels-Werke, die eigentlich so neu nicht war, geriet Engels zum »Buhmann«.

Engels habe in seiner Editionsarbeit in den zwölf Jahren nach Marxens Tod mit seinen populären Schriften dessen Werk verflacht. Dem sei hier widersprochen. Ohne Engels gäbe es überhaupt keinen Marxismus. Dies gilt zunächst einmal ganz schnöde materialistisch: ohne die Aufopferung und finanzielle Unterstützung von Engels hätte Marx seine Forschungen niemals tätigen können. Aber Engels war weitaus mehr als nur ein Mäzen. Marxens Hauptwerk »Das Kapital« trägt Engels’ Handschrift - und zwar in dreifacher Hinsicht: Zum einen führte nur die enge Zusammenarbeit der beiden zur Entwicklung der Marx’schen Denkbewegung und Methode zum historischen und dialektischen Materialismus. Zum anderen ist zu Marxens Lebzeiten lediglich der erste Band seines »Kapitals« (1867) erschienen. Den zweiten Band publizierte Engels aus dem Nachlass des Freundes. Und der dritte Band ist in weiten Teilen auch insofern das Werk von Engels, als er ihn aus den verstreuten Notizen von Marx mit erheblichem Eigenanteil zusammenstellte. Ohne Engels wäre das »Kapital« ein Torso geblieben. Was jedoch Engels zum Vorwurf gemacht worden ist (und teils noch wird), ist nicht unerheblich für die Wirkungsweise des Marx’schen Oeuvres.

Engels setzte darüber hinaus Marx erst auf die Spur der politischen Ökonomie. Seine »Lage der arbeitenden Klasse in England« kann mit Fug und Recht neben Lorenz von Steins Analyse der frühsozialistischen Bewegung in Frankreich als die erste große soziologische Gesellschafts- und Klassenanalyse gelten. In ihr verband Engels den tiefen Humanismus der gemeinsamen Frühschriften mit Marx mit einer empirisch-soziologischen Konkretisierung der Entfremdungskritik. Marxens im Rahmen seiner »ökonomisch-philosophischen Manuskripte« vollzogene Wendung zur politischen Ökonomie fußte auf Engels »Umrissen zu einer Kritik der Nationalökonomie«. Es war somit Engels, schreibt Marx’ Schwiegersohn Paul Lafargue, der den »entscheidenden Einfluß auf die geistige Richtung von Marx« nahm, »der bis dahin sich mehr mit Philosophie, Geschichte, Rechtswissenschaft und Mathematik befasst hatte«. Marx selbst räumte den Einfluss von Engels diesem gegenüber freimütig ein, »daß alles 1. bei mir spät kommt, und 2. ich immer in Deinen Fußtapfen nachfolge«. Während Engels wiederum unumwunden gestand, dass Marx ihn alsbald in der Systematik des Kapitals überflügelte.

Es war marxismusgeschichtlich Marx, der in seinen historisch-politischen Schriften (»Die Klassenkämpfe in Frankreich«, 1850 und »Der 18. Brumaire des Louis Bonaparte«, 1852), versuchte, die Überlegenheit der gerade entwickelten historisch-materialistischen Methode gegenüber der Mainstream-Geschichte ihrer Zeit (von Victor Hugo bis Proudhon) anhand zeitgeschichtlicher Ereignisse und Entwicklungen (Diktatur von Louis Bonaparte) zu untermauern. Es war dann aber wieder Engels, der die bereits 1848 im »Kommunistischen Manifest« gemeinsam formulierte These, dass »die Geschichte aller bisherigen Gesellschaft (...) die Geschichte von Klassenkämpfen« sei, auf andere Forschungsbereich übertrug: auf die Geschichte der sozialistischen Bewegungen und ihrer Theoriebildung (»Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft«, 1880), auf die deutsche und europäische Geschichte als eine von Klassenkämpfen (»Der deutsche Bauernkrieg«, 1850), auf die Philosophiegeschichte (»Ludwig Feuerbach und der Ausgang der deutschen Philosophie«, 1886), auf die Naturwissenschaften und Naturgeschichte (»Dialektik der Natur«, 1883), auf die Menschheitsgeschichte (»Der Ursprung der Familie, des Privateigentums und des Staats«, 1884) und auf die internationalen Beziehungen (»Die Rolle der Gewalt in der Geschichte«, 1887/88 sowie »Die auswärtige Politik des russischen Zarentums«, 1889/90). »Engels war«, adelte Karl Kautsky den Kompagnon von Marx, im Gegensatz zu diesem »wohl der phantasiereichere und in seinen geistigen Interessen universalere.«

Freilich: Es war die Stärke der Arbeiterbewegung, die die bürgerliche Wissenschaft zur Auseinandersetzung mit der Theorie des Marxismus zwang; aber es war Engels, als ihr geistig-moralischer Führer nach Marxens Tod, der den historischen Materialismus als Methode für die sich ausdifferenzierenden Disziplinen der Sozial- und Naturwissenschaften grundlegte.

Es war Engels, der das Marx’sche Denken mit Schriften, die es lesbar und verständlich machten, in die Massen trug, auch weil er - mit einem Wort von Franz Mehring - »für die publizistische Tagesarbeit besser gerüstet war als Marx«. Die Konsequenz war, dass sowohl viele spätere marxistische Intellektuelle, von Hanns Eisler bis zu Alfred Hrdlicka, wie auch Millionen Arbeiterinnen und Arbeiter den Marxismus nicht durch die Lektüre von Marx, sondern durch Engels kennenlernten. Wolfgang Fritz Haug hat diese Bedeutung von Engels auf den Punkt gebracht: Er sei »der wesentliche Systematisierer und zugleich Popularisierer, der den Satz von Ideen zusammenstellte und verständlich machte, der dann ›Marxismus‹ genannt wurde«. Das »Kapital« las früher kaum jemand, vermittelt wurde es über Engels’ »Anti-Dühring«. Es war mithin Engels, der dafür Sorge trug, dass der Marxismus zunächst in der Arbeiterbewegung in Deutschland, der stärksten weltweit, hegemonial wurde und von hier aus global ausstrahlte.

Für eine Theorie, die von der notwendigen Einheit mit und Überprüfbarkeit in der Praxis ausgeht, ihre Fragestellungen erst aus und in der Praxis der gesellschaftlichen Veränderung entwickelt, ist Popularisierung kaum leichtfertig abzutun. Im Gegenteil. Ohne Engels wäre also der Marxismus niemals das geworden und gewesen, was er war und ist, hätte nicht die historische Rolle in der kommunistischen und sozialdemokratischen Weltbewegung spielen können, wie er es tat. Und wäre auch heute keine geschichtlich relevante Denkbewegung mehr. Wer weiß, vielleicht könnte man sogar noch kühner postulieren: Ohne Friedrich Engels wäre Karl Marx vermutlich in Vergessenheit geraten.

Ingar Solty, Jg. 1979, ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung; er ist Mitherausgeber des dieser Tage erscheinenden Buches »Auf den Schultern von Karl Marx« (Westfälisches Dampfboot).