Im blinden Glauben?

Die ersten gesamtdeutschen Bundestagswahlen vor 30 Jahren

  • Jörg Roesler
  • Lesedauer: 7 Min.

Er hat sich nicht verkalkuliert: Als alle Stimmen der am 2. Dezember 1990 stattgefundenen Bundestagswahl ausgezählt waren, stand die CDU mit Kanzler Helmut Kohl mit 36,7 Prozent an der Spitze der Wählergunst. Die beiden anderen bisherigen Koalitionsparteien schnitten ebenfalls gut ab: für die FDP stimmten elf Prozent die bayrische CSU kam auf 7,1. Zusammen waren das also 54,8 Prozent Stimmen, die absolute Mehrheit. Der sozialdemokratische Gegenkandidat Oskar Lafontaine konnte - von heute aus gesehen - stattliche 33,5 Prozent der Wähler hinter sich versammeln, hatte aber keine Chance die Regierungsbildung zu beeinflussen. Die Wahlbeteiligung war übrigens annähernd gleich hoch: 78 Prozent im Westen und im Osten.

Erwartet worden waren - angesichts der unterschiedlichen Biografien der Wähler in Ost- und Westdeutschland - deutlich von einander abweichende Wahlergebnisse in den alten und den neuen Bundesländern. Die Sozialdemokraten hatten sich im hinzugekommenen Ostdeutschland große Chancen ausgerechnet. Es kam jedoch anders. Die Koalitionsparteien CDU/CSU und FDP gewannen im Westen (54,8 Prozent) fast genau soviel Stimmen wie in der ehemaligen DDR (54,7 Prozent. Gemessen an den Erwartungen war das die eigentliche Sensation dieser Bundestagswahl. Offensichtlich wirkte Kohls Versprechen vom März 1990, im Falle der Wiedervereinigung dem Osten »blühende Landschaften« zu bescheren. Verwunderlich war das schon, denn seit dem Frühjahr, beschleunigt ab Juli 1990, nach dem Wirksamwerden der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion, waren die DDR-»Landschaften« - um bei Kohls Metapher zu bleiben - nicht aufgeblüht, sondern immer mehr verwelkt. Viele Fabriken und Werkstätten hatten bereits schließen müssen. Die Zahl der in Industrie und Handwerk in Ostdeutschland Beschäftigten, hatte sich im zweiten Halbjahr 1990 von 2,7 auf 2,2 Millionen vermindert. Die meisten Entlassungen gab es in der Verbrauchgütererzeugung sowie in der Nahrungs- und Genussmittelindustrie.

Wie bewerteten die Parteipolitiker das Abstimmungsergebnis am Wahlabend? Kohl sprach von einem »großartigem Ergebnis« an dem ihn besonders befriedigte, dass seine Partei im West- wie im Ostteil des Landes ein »ungefähr gleiches Ergebnis« erreicht habe. Lafontaine tröstete sich damit, dass die SPD »bei Wählern bis 40 in Führung« liege. Für Gregor Gysi waren die Aussichten für die Zukunft der PDS, aus der später die Linkspartei werden sollte, »nicht so schlecht«. Lediglich Marianne Birthler von Bündnis 90 zeigte sich erstaunt: »Mich beschäftigt vor allen Dingen die Frage, warum so viele Menschen gegen ihre eigenen Interessen gewählt haben. Ich meine, dass die möglichen Folgen dieser Vereinigung erst in den nächsten Monaten in ihrem ganzen Ausmaß deutlich werden.« Bündnis 90 kam zusammen mit den Ostgrünen in den Bundestag, weil sie als gemeinsame Wahlliste im Osten 6,2 Prozent erreicht hatten, die Westgrünen aber blieben draußen, weil sie nur im Westen kandidiert hatten und dort 4,8 Prozent erreichten. Denn bei dieser Wahl gab es zwei Wahlgebiete, eins für die alte BRD und eins für die vormalige DDR. Aus diesem Grund gelangte auch die PDS in den Bundestag. Sie hatte bundesweit kandidiert und im Westen nur 0,3 Prozent geholt, im Osten aber 11,1 Prozent.

Anders als Birthler meinte, hatten diejenigen Ostdeutschen, die damals in großer Anzahl CDU wählten, sehr wohl ihre Interessen im Sinn. Sie waren auch nicht blind hinsichtlich des eingetretenen wirtschaftlichen und sozialen Rückfalls. Sie glaubten aber offensichtlich dennoch mehrheitlich des Kanzlers Argumentation, dass die DDR-Wirtschaft bereits in den 80er Jahren viel maroder gewesen war als man selbst im Westen angenommen habe. »Marode« wurde in den Medien das Lieblingswort zur Charakterisierung des Zustandes der ostdeutschen Ökonomie. Kohl war es gelungen, die Ostdeutschen davon überzeugen, dass die Wirtschaft in den neuen Bundesländern, marktwirtschaftlich angepackt, gesunden würde, wenn die Treuhandanstalt die Privatisierung der ostdeutschen Betriebe so rasch wie möglich vorantrieb.

Doch schon die nächsten Monate offenbarten, Kohl hatte unrecht. Die Industrieproduktion sankt in den neuen Bundesländer im ersten Quartal 1991 gegenüber dem Produktionsumfang von dritten Quartal 1990 auf 64 Prozent. Auch in den folgenden Quartalen blieb der »Aufschwung Ost« aus. Die Wirtschaft stagnierte. Die Anzahl der Beschäftigten auf dem Gebiet der ehemaligen DDR ging kontinuierlich zurück. Sie schrumpfte von fast zehn Millionen 1989 auf knapp über acht Millionen Ende 1991. Wer seinen Arbeitsplatz verlor, hatte große Probleme, eine seiner Qualifikation entsprechende neue Beschäftigung zu finden.

Es gab allerdings nicht nur beklagenswerte Entwicklungen. Die durchschnittlichen Monatslöhne der Ostdeutschen stiegen bis Ende 1992 bemerkenswert an - in der Industrie von 1174 DM auf 2711 DM, allerdings nur für »Vollzeitbeschäftigte Arbeiter und Angestellte«. Die Renten erhöhten sich ebenfalls - von 672 DM im zweiten Halbjahr 1990 auf 1120 DM im zweiten Halbjahr 1992.

Für die Beurteilung der Entwicklung des Lebensstandards entscheidend ist letztlich der Reallohn, das Verhältnis von Lohn- und Preisentwicklung. Da in Ostdeutschland gleichzeitig mit den Löhnen und Renten die Lebenshaltungskosten anwuchsen - die Preise für Kleidung und Schuhe um 3,4 Prozent für Nahrungs- und Genussmittel um 13,6 Prozent und für Wohnungsmieten um das Vierfache -, fiel der Zuwachs an Realeinkommen deutlich bescheidener aus als der Nominallohn. Was bei der Wahlentscheidung der Ostdeutschen eigentlich eine größere Rolle hätte spielen müssen, war ein Erreichen des Verdienst- und Konsumniveaus wie in den alten Bundesländern. Davon war jedoch am 2. Dezember 1990 nicht viel zu spüren. Die Löhne und Einkommen im Osten lagen generell bei knapp einem Drittel des Westniveaus.

Warum kam die so offensichtliche Differenz zwischen Kohls Versprechen und der Realität bei der Dezemberwahl 1990 nicht stärker den Oppositionsparteien zugute? So groß diese Differenz auch war, so hatte sie doch einen Realitätsbezug: Der im Vergleich zum Westniveau noch geringe Lohn entsprach im zweiten Halbjahr 1990 in etwa dem augenblicklichen Produktivitätsniveau Ostdeutschlands, das infolge des wirtschaftliche Desasters nach der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion deutlich und nachweislich gegenüber des Westen Deutschlands auf ein Drittel absank. Das Bruttoinlandsprodukt (BIP) je Einwohner, das 1989 in der DDR bei 55 Prozent des BIP der Bundesrepublik lag, sank in den dem Desasters der Wirtschafts-, Währungs- und Sozialunion folgenden anderthalb Jahren auf 33 Prozent. Erst 1994 konnte im Osten die relative Wirtschaftskraft von 1989 wieder erreicht und überschritten werden. Aber selbst 2018 lag das BIP pro Kopf im Osten gerade einmal bei 73 Prozent des Wertes im Westen.

Die langzeitigen Auswirkungen der Währungs-, Wirtschafts- und Sozialunion auf die zukünftige Entwicklung von Produktion und Verdienst im Osten waren Anfang Dezember 1990 für aufmerksame Beobachter schon erkennbar und für ein keineswegs geringe Anzahl von Familien spürbar. Ungeachtet dessen glaubte eine Mehrheit der Arbeiter und Angestellten in der Ex-DDR noch an die versprochenen »blühenden Landschaften« und ermöglichte Kohl die Realisierung seines Wunsches, Kanzler zu bleiben - wie sich noch herausstellten sollte, sogar über eine weitere Amtsperiode hinaus.

Bei dem Versuch, zu erklären, warum die Ostdeutschen vor 30 Jahren in so großer Zahl für Kohls CDU stimmten, muss man vor allem eines beachten: Im Unterschied zum heutigen Betrachter war erstens den Ostdeutschen in jener Zeit nicht vorstellbar, wie negativ die ökonomische und soziale Entwicklung in den neuen Bundesländern sich mittel- und langfristig vollziehen würde. Zumal es durchaus optimistisch zu deutende Entwicklungen gab. Günstig für Kohl wirkte allein schon, dass die Löhne in »Westgeld« ausgezahlt wurden, an das man früher nur gelangen konnte, wenn man dafür die drei- bis vierfache Menge »Ostmark« in der Wechselstube einzahlte. Zuversichtlich stimmten zudem, dass man mit der DM vielfach qualitativ bessere Konsumgüter kaufen konnte als zu DDR-Zeiten. In diesen Genuss kamen allerdings nicht alle ehemaligen DDR-Bürger: nicht diejenigen, die arbeitslos geworden sind, noch die in die Kurzarbeit Geschickten. Das waren aber »nur« zwei von zehn Millionen - eine Minderheit. Aber auch sie konnten sich, wenn sie den Politikern aus Westdeutschland und den Politikern der CDU im Osten glauben schenkten, damit trösten, dass ihr unbefriedigender Zustand nur vorübergehend sein würde, wenn denn der »Aufschwung Ost« an Fahrt gewonnen habe.

Zweitens hatten große Teile der ostdeutschen Bevölkerung den Glauben an die Reformierbarkeit des sozialistischen Wirtschaftssystems als realisierbare Alternative zur kapitalistischen Gesellschaftsordnung verloren. Diejenigen, die an diesem Glauben festhielten, machten gerade mal noch ein Zehntel der ostdeutschen Bevölkerung aus.

Drittens war die Mehrzahl der aus der DDR stammenden Wähler überzeugt, dass es im bundesdeutschen Wirtschafts- und Gesellschaftssystem keine Krisen mehr geben würde und man gelernt habe - wenn solche denn überhaupt auftreten sollten - sie klein zu halten und rasch zu beenden. Und dass das dereinst von der SED-Führung wiederholt ausgegebene Ziel, die Bundesrepublik wirtschaftlich einzuholen und zu überholen, niemals erreicht wurde, erschien der Mehrheit der Ostdeutschen Beweis genug für die Stärke der bundesdeutschen Wirtschaft.

Es gab also durchaus nachvollziehbare Gründe dafür, dass die Mehrzahl der ostdeutschen Wähler bereit waren, CDU/CSU zu wählen. Und es ist wohl auch auf die angebliche Alternativlosigkeit des real existierenden Kapitalismus à la Bundesrepublik Deutschland, zurückzuführen, dass sich die Situation in Ostdeutschland bis heute nicht grundsätzlich gegenüber den Dezemberwahlen 1990 geändert hat.

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