nd-aktuell.de / 03.12.2020 / Politik / Seite 3

Dem »Sorry« folgte nur wenig

1992 erhielten die Aborigines alle Rechte, doch noch immer sind sie in der australischen Gesellschaft Menschen zweiter Klasse

Barbara Barkhausen, Sydney

Der Australia Day - der Nationalfeiertag Australiens Ende Januar - beginnt in Sydney jedes Jahr mit einer indigenen Zeremonie. Ganz früh am Morgen versammeln sich Dutzende Aborigines - in bunten Kleidern, die Haut bemalt - und stellen ihre Kultur und Seele zur Schau. Es wird getanzt, es werden Dreamtime-Geschichten geteilt und es wird protestiert. Denn der Feiertag der Australier ist gleichzeitig »Invasion Day« für die Aborigines. Am 26. Januar 1788 drangen die weißen Kolonialisten in ihr Land ein, um es in der Folge zu besiedeln. Damit haben sie das Leben der Indigenen bis heute nachhaltig verändert.

Über 200 Jahre sind seitdem vergangen, in denen die Aborigines unendliches Leid erlebt haben. Selbst heute - wenn man das Wort »Aboriginal« googelt - springen einem nach wie vor Nachrichten ins Auge, die man auf den ersten Blick nicht für möglich halten möchte: Allein in den vergangenen Wochen und Monaten zerstörten Bergbaufirmen indigene Kulturstätten, ein konservativer Politiker ereiferte sich in zweifelhaften Kommentaren über die indigene Sportlerin Cathy Freeman, und die schlimmste aller Meldungen: Ein elfjähriges Aboriginal Mädchen nahm sich selbst das Leben, nachdem sein Vergewaltiger wieder auf freien Fuß gesetzt wurde.

Rassismusdebatte auf Australisch

Auch wenn Massaker und Versklavung der Aborigines ein Ende haben, die Probleme der indigenen Bevölkerung Australiens, die vor über 60 000 Jahren auf den australischen Kontinent gekommen ist, sind bis heute vielfältig. »Ich denke, es ist ein großer Druck, ein junger Aborigine zu sein, der in Australien aufwächst«, sagte die indigene Dichterin Guyala Buyles, die auch als Model arbeitet, vor Kurzem im Interview mit dem indigenen Sender NITV. Buyles sprach über das »Trauma zwischen den Generationen« und die Dinge, die »unser Volk so lange unterdrückt« hat. Man wachse mit all diesen Problemen auf und denke, das sei normal.

Als im Juni die Rassismusdebatte aus den USA auch nach Australien überschwappte, veröffentlichte die australische Nationaluniversität in Canberra eine Studie, die aufzeigte, dass drei von vier Australiern den Aborigines negativ gegenüberstehen - ein Fakt, der letztendlich »zu einem weit verbreiteten Rassismus führen kann«, wie es in der Analyse hieß. »Die Ergebnisse sind schockierend, aber nicht überraschend«, kommentierte der Autor der Studie, Siddharth Shirodkar, damals.

Polizeigewalt thematisiert

Marcia Langton, eine indigene Professorin an der Universität von Melbourne, prangerte zur gleichen Zeit in einer Rede den Umgang der australischen Polizei mit den rund 800 000 Aborigines an, die in Australien leben. »Ich hätte gedacht, dass es ziemlich einfach ist. Töte keine Aborigines«, sagte sie. Die Worte sind drastisch, die Fakten jedoch unbestreitbar. Denn ähnlich wie in den USA sterben auch auf dem fünften Kontinent seit Jahren überproportional viele schwarze Menschen in Polizeigewahrsam. So ergab eine Analyse der australischen Ausgabe des Guardian, dass seit 1991 mindestens 437 Aborigines in Polizeigewahrsam ums Leben kamen (bis Juni 2020).

Dass im Verhältnis deutlich mehr Indigene in Polizeigewahrsam ihr Leben verlieren, hängt auch damit zusammen, dass überproportional viele Gefängnisinsassen Aborigines sind. 1991 waren 14,3 Prozent der männlichen Inhaftierten in Australien Indigene, im März 2020 waren es 28,6 Prozent. Die erste Aborigine-Abgeordnete im australischen Parlament, Linda Burney, forderte bereits 2017 eine Justizreform. »Dies bezieht sich nicht auf schwere Verbrechen«, betonte die sozialdemokratische Politikerin damals. »Die meisten Aborigines sitzen wegen Verkehrsdelikten im Gefängnis, weil sie ohne Führerschein gefahren sind oder Strafzettel nicht bezahlt haben.« Für diese Vergehen sollten ihrer Meinung nach alternative Strafen eingeführt werden.

Bilder wie aus Abu Ghraib

Eine der vielen Toten ist Tanya Day. Day gibt der oft namenlosen Statistik ein Gesicht. Die Frau wurde 2017 festgenommen, weil sie betrunken war. Doch in der Zelle starb sie schließlich, weil sie keine medizinische Versorgung erhielt, als sich ihr Gesundheitszustand plötzlich verschlechterte. Day ist keine Ausnahme. Eine weitere Analyse des »Guardian« aus dem Jahr 2018 fand, dass 34 Prozent der Aborigines keine angemessene medizinische Versorgung vor ihrem Tod erhalten hatten, verglichen mit 25 Prozent der nicht-indigenen Bevölkerung. Indigene Frauen waren dabei am schlimmsten betroffen: 50 Prozent erhielten nicht die erforderliche Hilfe.

Auch aus einer Jugendstrafanstalt kamen 2014 schockierende Nachrichten ans Tageslicht. Bilder, die den Medien zugespielt wurden, zeigten einen 17-jähriger Jungen mit einem über den Kopf gestülpten Sack, der am Hals zugebunden war. Um den Hals hielt ihn zudem ein Band an der Kopflehne fest, während seine Arme und Beine an den Stuhl gefesselt waren. Andere Szenen aus dem Don Dale Centre zeigten, wie ein noch relativ kleiner Junge von Gefängniswärtern mit Gewalt zu Boden gerissen und nackt ausgezogen wurde, zehnmal Tränengas in einen kleinen Raum gesprüht wurde und wie die Wärter sich über die jungen Aboriginal Häftlinge mokierten. Eine Fernsehmoderatorin verglich die Szenen damals mit Bildern, die aus Guantánamo Bay oder Abu Ghraib bekannt seien, wo US-Soldaten ihre Gegner im »Krieg gegen den Terrorismus« misshandelten.

Indigene in der Krise

Auch in etlichen anderen Aspekten des Lebens werden die Aborigines benachteiligt oder haben schlechtere Bedingungen: So zeigte der zwölfte »Closing the Gap«-Bericht, der im Februar im australischen Parlament vorgestellt wurde, wie groß die Kluft zwischen den Indigenen und dem Rest der Bevölkerung Australiens nach wie vor ist. Indigene Kinder hinken in Bezug auf Alphabetisierung, Rechnen und Schreiben den nicht-indigenen Kindern hinterher, die Kindersterblichkeit ist deutlich höher und auch bei den Beschäftigungsquoten bleiben Aborigines weit hinter dem Rest des Landes zurück.

Der Selbstmord des vergewaltigten elfjährigen Mädchens ist ebenfalls kein Einzelfall. 2019 nahmen sich innerhalb weniger Wochen acht indigene Kinder das Leben. Damals sprachen selbst australische Medien, die verhältnismäßig selten über Themen der Aborigines berichten, von einer Krise. Obwohl weniger als fünf Prozent der australischen Jugend indigen sind, machen sie ein Viertel aller Selbstmorde bei Minderjährigen aus. In manchen australischen Bundesstaaten sind es sogar mehr als 60 Prozent.

Selbst um die offizielle Anerkennung im Land kämpfen die Aborigines bis heute. Als Australien im Jahr 1900 seine eigene Verfassung bekam und damit vom britischen Königreich unabhängig wurde, wurden die Aborigines mit keinem Wort erwähnt. Auch ein Vertrag zwischen der indigenen Bevölkerung und den eingewanderten Australiern existiert nach wie vor nicht. Einen weiteren Tiefpunkt stellte die Zeit von etwa 1910 bis in die 1970er Jahre hinein dar, als Kinder gewaltsam aus Aboriginal Familien entfernt und in weißen Pflegefamilien und Kinderheimen untergebracht wurden.

Versöhnungsprozess eingeläutet

Ein erstes Umdenken hat jedoch eingesetzt. Die Anfänge dessen finden sich Mitte der 1960er Jahre, als Aboriginal das Wahlrecht in einzelnen Bundesstaaten erhielten und 1967 eine große Mehrheit der Australier in einem Referendum dafür stimmte, Indigene in der Volkszählung des Landes aufzunehmen. Mit dem sogenannten Mabo-Urteil des Höchsten Australischen Gerichtshofes 1992 erhielten die Aborigines erstmals die staatlich anerkannten Rechte an dem Land, auf dem sie seit Jahrtausenden lebten. Den Versöhnungsprozess läutete 2008 dann der damalige Premierminister Kevin Rudd ein, der sich im Namen der australischen Regierung für die Gräuel der Vergangenheit entschuldigte.

Seitdem gibt es immer wieder auch Lichtblicke und rare Momente, die einen normaleren Umgang und eine Anerkennung der Indigenen, ihres Erbes, ihrer Kultur und ihrer Kunst erkennen lassen. So gewann der australische Künstler Vincent Namatjira Ende September als erster indigener Künstler den renommierten Archibald-Kunstpreis. Ein israelischer Professor kämpft an der Universität von Adelaide um indigene Sprachen und hat es geschafft, der bereits ausgestorbenen Sprache Barngarla neues Leben einzuhauchen.

Das Garma-Festival lädt Besucher ins Arnhemland in Nordaustralien ein, den letzten Zufluchtsort der Aborigines, wo sie noch traditionell leben und eng mit ihrer Kultur verbunden sein können. Und das Social-Media-Projekt »Yarrie Yarns« feiert die Indigenen, indem es ihnen eine Stimme gibt. Der Polizeibeamte Adam Frew teilt darüber die positiven Geschichten von Ältesten, indigenen Lehrern, Polizeibeamten, Musikern, Influencern und Vorbildern in der Gesellschaft. Australiens Ex-Premier Kevin Rudd hat mit seinem »Sorry« ein Zeichen gesetzt, doch letztendlich sind es Menschen wie Adam Frew, die den Aborigines wirklich die Hand zur Versöhnung reichen.