Die Zukunft des Jazz, theoretisch

Plattenbau

  • Lars Fleischmann
  • Lesedauer: 3 Min.

Es hat sich doch viel getan in den letzten Jahren: Aus Los Angeles, Chicago und London diffundierte so viel hervorragende Musik in die Plattenauslagen, dass man fast vergessen hätte, dass Jazz immer noch einen verstaubten, grau-melierten Ruf genießt.

Dabei haben Künstler*innen wie Kamasi Washington, Shabaka Hutchings oder auch Jaimie Branch genügend Anlass geboten, die eigene Einstellung zum »Gedudel«, wie man früher sagte, noch einmal ordentlich zu überdenken. Womöglich braucht es aber auch bloß eine Heilsperson, so wie es Country gerade erst vorgemacht hat: 2019 konnte sich die alte Western-Mucke (zumindest ansatzweise) rehabilitieren, als der Schwarze und schwule Cowboy-Rapper Lil Nas X mit »Old Town Road« einen Überhit in die Charts brachte.

Vermutlich ist es kein Zufall, dass sich diesem Song nun ein Künstler annimmt, der durchaus das Potenzial hat, Jazz und den Rest der Welt ein wenig zu versöhnen: Sam Gendel. Er kommt aus dem Umfeld des Produzenten und John-Coltrane-Neffen Flying Lotus und schaffte es Anfang des Jahres mit seinem Album »Satin Doll« weit hinein in die Feuilletons und die Spotify-Top-Playlisten. Gendel zeigte sich dort von einer super-hybriden Seite, in seinem Jazz-Entwurf brachte er aktuellen Hip-Hop und altgediente Standards zusammen.

Gendels Interpretationen klingen dementsprechend gänzlich anders als ihre Vorbilder: Sie sind Übertragungen vom Gestern ins Heute - raus aus dem Alt-Jazz, rein in die überwältigende Welt aktueller Möglichkeiten.

Digitale Klangerzeugung und -modulation sind hier prägend; Saxofone klingen, durch allerlei Effektpedale und sonstigen Technik-Schnick-Schnack nicht mehr nach Messing-Korpus, sondern nach futuristischen Space-Dudelsäcken. Hierfür benutzt Gendel die dahinschmelzenden, quecksilberflüssigen Sounds der amerikanischen Trap-Künstler*innen und Beatproduzent*innen aus der letzten Dekade. Es sind Intonationen, Beats und Flächen, die eine Synästhesie aus MDMA, Benzodiazepinen, LSD und Opiaten wiedergeben sollen. In Anlehnung an das immer noch stilprägende Getränk» Purple Drank« (ein Codein-Limo-Gemisch) dieser Generation von Rappern, nennen wir diese Klänge einfach mal purple notes.

Einige dieser lila-schimmernden Töne gibt es auch auf »DRM«, dem neuen Album von Sam Gendel, allerdings rücken sie, kaum sind sie aufgetaucht, auch wieder in den Hintergrund. Denn auf »DRM« geht es um andere Akzente. Der Titel des Albums ist der Name einer 40 Jahre alten Drum-Maschine, die ein rudimentäres Set-Up aufweist und auf dieser Platte meist den Takt vorgibt. Des Weiteren benutzt Gendel viele exotische Synthesizer und eine Nylon-Saiten-Gitarre, mit der er sich schon vor Jahren »gerade Töne« abgewöhnt hat.

Mit dieser Selbstbegrenzung entfernt sich Gendel vom Hip-Hop und nähert sich den Weird-Rockern und -Soulern à la Captain Beefheart und Gary Wilson. Das wirkt erstmal weniger eingängig, doch Sperrigkeit kann Bedeutendes heraufbeschwören. Das heißt: »DRM« könnte sich nicht bloß als Kunst-, sondern auch als Glücksgriff, als Fingerübungen für die Zukunft erweisen. Die Art und Weise, wie Gendel aus der Coverversion von »Old Town Road«-Cover eine Miniatur hervorschält und auch die weiteren 13 Songs und Skizzen deuten an, dass dieser Künstler viel Starpotenzial hat. Vorausgesetzt, er macht den Schritt vom Jazz-Saxofonisten zum Songwriter und verbindet alle seine bisherigen Ansätze - auf einer zukünftigen Platte. Dann steht er womöglich für eine Re-Cool-isierung des Jazz. Und wenn nicht, dann ist »DRM« einfach nur eine fantastisch innovative Platte für Liebhaber*innen.

Sam Gendel: »DRM« ( Nonesuch/Warner)

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