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  • Valéry Giscard d’Estaing

Mann des Zentrums

Frankreichs Ex-Präsident Valéry Giscard d’Estaing ist mit 94 Jahren gestorben

  • Ralf Klingsieck, Paris
  • Lesedauer: 3 Min.

Ein Prominenter mehr, der Covid-19 zum Opfer gefallen ist: Der ehemalige französische Präsident Valéry Giscard d’Estaing ist am Mittwochabend im Alter von 94 Jahren in einem Krankenhaus in Tours gestorben. Rundfunk und Fernsehen brachten ausführliche Sondersendungen und die Verdienste des Mannes, den viele Franzosen familiär VGE nannten, wurden von Politikern und Persönlichkeiten der verschiedensten Horizonte gewürdigt. Präsident Emmanuel Macron, der VGE zu seinen politischen Vorbildern zählte, betonte in seinem Nachruf die fortschrittlichen Veränderungen, durch die der Präsident Frankreich mitgeprägt habe und die bis heute nachwirkten.

Valéry Giscard d’Estaing wurde 1974 nach dem überraschenden Tod von Georges Pompidou, als die politischen Beobachter schon fest mit dem Sieg von François Mitterrand und der Linken rechneten, von einer sehr knappen Mehrheit gewählt und war mit 48 Jahren der jüngste Präsident in der Geschichte Frankreichs. Er hatte in seiner Jugend an der Résistance teilgenommen, war dann Abgeordneter und unter Präsident Charles de Gaulle Finanzminister, aber kein Gaullist, sondern zeitlebens ein Mann des Zentrums.

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Sein Vorbild war US-Präsident John F. Kennedy und wie dieser wollte er das politische Leben »entstauben« und modernisieren. Von den Reformen, die der von Haus aus konservative Präsident oft gegen den Widerstand des eigenen Lagers durchsetzte, ist besonders die Legalisierung des Schwangerschaftsabbruchs ins kollektive Gedächtnis der Franzosen eingegangen. Er hat aber auch die Volljährigkeit und das Wahlalter von 21 auf 18 Jahre gesenkt. Erstmals gab es unter ihm ein Ministerium für die Rechte der Frauen und er hat beispielsweise die Vorschrift abgeschafft, wonach eine Frau nur mit Genehmigung ihres Mannes ein Bankkonto eröffnen durfte. Ferner wurde unter VGE die Pille zur Schwangerschaftsverhütung von der Krankenkasse erstattet und die Scheidung wesentlich vereinfacht, wenn beiderseitiges Einverständnis vorlag.

Zusammen mit Bundeskanzler Helmut Schmidt, mit dem ihn eine sozialliberale Grundeinstellung und eine langjährige Freundschaft verbanden, hat er die deutsch-französische Zusammenarbeit intensiviert und zum »Motor für Europa« gemacht. Auf Schloss Rambouillet bei Paris begründete Giscard d’Estaing 1975 ein Treffen der Staats- und Regierungschefs der sechs wichtigsten Industrieländer, aus dem später das G7- und dann das G8-Treffen wurde. Ausdruck der von ihm betriebenen neukolonialistischen Politik war die Förderung des Präsidenten von Zentralafrika Bokassa, der sich mit französischer Hilfe sogar zum Kaiser ausrufen ließ und der Giscard Diamanten schenkte, was von den Medien enthüllt wurde und zu seiner Wahlniederlage beitrug. Giscards innenpolitische Bilanz wurde durch die Fehde mit seinem Premierminister der ersten Amtsjahre, Jacques Chirac, überschattet, der schließlich sein Amt niederlegte und bei der Kommunalwahl 1977 erfolgreich für das Amt des Pariser Bürgermeisters kandidierte. Dass Giscard d’Estaing bei der Präsidentschaftswahl 1981 nicht wiedergewählt, sondern von Mitterrand geschlagen wurde, verdankte er Chirac, der der Parteiführer der größten Rechtspartei war, aber seinen Anhängern demonstrativ keine Wahlempfehlung zugunsten von VGE gab.

Mit erst 55 Jahren abgewählt, war VGE fast 40 Jahre lang Ex-Präsident. Er wurde mehrfach Abgeordneter der Nationalversammlung und des Europaparlaments. Als Präsident des Europäischen Konvents war er federführend bei der Ausarbeitung einer Verfassung für Europa, die in einem Referendum der Bevölkerung aller EU-Länder unterbreitet wurde und dabei am mehrheitlichen Nein der Franzosen und der Niederländer scheiterte. Als ehemaliger Staatspräsident hatte er auf Lebenszeit Sitz und Stimme im Verfassungsrat. Wohl, weil er bis zum Schluss über die vermeintliche Undankbarkeit der Franzosen verbittert war, wollte Valérie Giscard d’Estaing kein Staatsbegräbnis, sondern eine Beisetzung im engsten Familienkreis. Präsident Emmanuel Macron hat aber am Donnerstagabend in einer Fernsehansprache seinen entfernten Amtsvorgänger gewürdigt und ihm zu Ehren für einen Tag die Nationalfahne auf allen öffentlichen Gebäuden auf Halbmast setzen lassen.

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