Endlich wieder Engels lesen!

Rolf Hecker und Ingo Stützle haben den »Anti-Dühring« neu herausgegeben

  • Michael Brie
  • Lesedauer: 4 Min.

Will man Friedrich Engels verstehen, sollte man zuerst sein Gedicht »Abend« lesen, dass er mit 20 Jahren schrieb, auf die Dämmerung der düsteren Phase der Restauration blickend. Er hoffte auf ein Morgenrot: »Ja, einer bin ich von den kecken Vögeln, / Die in dem Äthermeer der Freiheit segeln …« Seine Wendung zum Sozialismus und Kommunismus war durch die Erwartung begründet, dass die Menschheit durch die kommunistische soziale Revolution den »Sprung ins Reich der Freiheit« vollzieht, wie er in »Herrn Eugen Dührings Umwälzung der Wissenschaft« prognostizierte. Pünktlich zum 200. Geburtstag von Engels erschien dieses bedeutsame Werk als neue Studienausgabe nebst einem Begleitband, herausgegeben von Rolf Hecker und Ingo Stützle, fußend auf aktuellem Forschungsstand. Der neuen Studienausgabe liegt die Erstausgabe von 1878 zugrunde. Aufgenommen sind nicht nur die Vorworte von Engels zur zweiten und dritten Auflage, sondern auch Marx’ Randnoten zu Dührings »Kritische Geschichte der Nationalökonomie« und jene Fassung, die Engels dem dritten Abschnitt des »Anti-Dühring«, dem zentralen zum Sozialismus, bei der zweiten Auflage gab.

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Friedrich Engels: Herrn Eugen Dühring’s Umwälzung der Wissenschaft. Hg. v. Rolf Hecker und Ingo Stützle. Karl Dietz, 200 S., br., und
Rolf Hecker/Ingo Stützle (Hg.): Engels’ »Anti-Dühring«. Kontext, Interpretationen, Wirkung. Karl Dietz, 174 S., br.,; beide Bände 35 €.

Engels’ »Anti-Dühring« hat ein paradoxes Schicksal erfahren. Erst durch ihn und die ihm entnommene Schrift »Die Entwicklung des Sozialismus von der Utopie zur Wissenschaft« wurde der »wissenschaftliche Sozialismus«, wie Marx und Engels ihre Auffassungen zu bezeichnen begannen, einem breiten Kreis der Arbeiter-Intellektuellen zugänglich. Sie wurden die Grundlage, auf der sich eine Generation von Marxisten zu formieren begann und sich in der Folge auch das »Kapital« erschloss. Zugleich trifft Engels’ »Anti-Dühring« aber auch die Kritik all jener, die Marx selbst fernhalten wollen vom Marxismus-Leninismus. Zudem gibt es bei vielen heutigen akademischen Marxistinnen und Marxisten teilweise eine bestimmte Verachtung gegenüber Texten, die nicht im engeren Sinne »wissenschaftlich« sind. Wie aber sollen die Ideen die Massen ergreifen, wenn sie in Gestalt der ersten Kapitel des »Kapitals« daherkommen?!

Der Marxismus als politisch-intellektuelle Strömung ist nur verständlich, wenn man anerkennt, dass es beides braucht - ständig neue, empirisch gesättigte Forschung und eine aktive Beziehung zu realen gesellschaftlich-politischen Bewegungen, wie sie die Sozialdemokratie und der Sozialismus in den 1860er Jahren und danach aufwiesen. Dabei sind programmatische Schriften, die Theorie und praktische Bedürfnisse sowie strategische Orientierungen zu einer Anschauung von der Welt, ihren Widersprüchen, realen Möglichkeiten, Kräften und Projekten der Transformation mit Visionen verbinden, unverzichtbar. Programmatische Werke wie der »Anti-Dühring« sind ein eigenes Genre. Engels’ Werk kann als ein Meisterwerk dieses Genres gelten, von dem wir heute viel lernen können, auch deshalb, um es anders zu machen als bisher.

Die Schriften von Eugen Dühring konnten in den 1870er Jahren deshalb so intensiv auf die deutsche Sozialdemokratie wirken, weil es - wie in den Vorworten und im Artikel von Christian Schmidt »Wissenschaft und Utopie« im Begleitband angemerkt - ein Vakuum gab: auf der einen Seite die Felsenmelodie des »Kapitals«, auf der anderen Seite die realen Bewegungen, die Erste Internationale, die Pariser Kommune, die sich formierenden sozialistischen und sozialdemokratischen Parteien und Gewerkschaften. Doch ein Bindeglied fehlte wie die Luft zum Atmen. Hatte Engels schon in der Schrift zur Wohnungsfrage (1872/73) in Zeitungsartikeln Front gegen proudhonistische Positionen gemacht, so war die Herausforderung durch Dühring noch viel größer, die Lücke zu füllen.

Die Herausgeber, Autorinnen und Autoren des Begleitbandes tragen dem besonderen Genre der programmatischen Schrift teils unzureichend Rechnung. Wie sollen die unter dem Druck der kapitalistischen Konkurrenz und ihrer autoritären, nationalistischen, teilweise rassistischen Ausformung sich auftuenden Spaltungslinien vermittelt werden, wenn es keine weltanschauliche Verbindung der subalternen Kräfte gibt? Wie sollen sie einen eigenen Pol des Kampfes bilden? Ich hätte mir gewünscht, dass der Begleitband sich noch stärker direkt mit dem Projekt des »Anti-Dühring« auseinandersetzt und hier systematisch bildend einführt.

Der Band ist zu sehr Sammelband, trotz hervorragender lesenswerter Einzelbeiträge, die alle für sich exzellent sind. Und vor allem hoffe ich, dass nun der »Anti-Dühring« und die »Dialektik der Natur« im Rahmen der Marx-Engels-Werkausgabe, der berühmten MEW, überarbeitet als neuer Band 20 im Karl-Dietz-Verlag herausgegeben wird. Die Neue Studienausgabe des »Anti-Dühring« und der Begleitband bieten eine wunderbare Voraussetzung dafür. Zugleich können sie dazu beitragen, dass die Linke in Deutschland und Europa stärker an den weltanschaulichen Grundlagen ihres Handelns arbeitet. Deren heutige Schwäche liegt nicht so sehr im Akademischen, sondern im Weltanschaulichen wie ihm praktisch Politischen.

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