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Der größte Streik der Weltgeschichte?

Über die jüngsten Mobilisierungen gegen den autoritären Neoliberalismus in Indien - und die westlichen Schwierigkeiten, dieselben angemessen wahrzunehmen.

  • Aurel Eschmann
  • Lesedauer: 9 Min.

Hat in Indien soeben der größte Streik aller Zeiten stattgefunden? Zumindest nicht für Menschen, die ihre Informationen hauptsächlich aus der »Tagesschau« beziehen. Die jüngsten Indien-Themen der ARD-Hauptnachrichtensendung waren ganz andere: Berichtenswert erschienen der Redaktion der Skandal, den eine BBC-Fernsehserie hervorrief, in der ein Muslim eine Hindu-Frau vor einem Hindu-Tempel küsste, der Stand der indischen Vorbereitungen auf eine Covid-19-Impfkampagne und die Auswirkungen der Pandemiebekämpfungsmaßnahmen auf das Problem der Unterernährung. Ähnlich ist es beim ZDF, wo es zuletzt - einmal mehr - um die gravierende Luftverschmutzung in der Hauptstadt Delhi ging.

Linke Medien verbreiten hingegen ein ganz anderes Bild. Vor wenigen Tagen schrieb etwa die Tageszeitung »Junge Welt«, dass sich in Indien am Donnerstag der vergangenen Woche eine Viertelmilliarde Menschen am Bharat Bandh beteiligt hätten, am Nationalstreik. Anlass desselben waren die von der indischen Zentralregierung auf den Weg gebrachten hyperliberalen Reformen des Landwirtschaftsrechts sowie des Arbeitsschutzrechtes. Das dezidiert linke Blatt aus Berlin war zwar nicht das einzige deutsche Medium, das die Zahl von angeblich 250 Millionen Streikenden aufgriff. Einige Tage später zog etwa die bürgerlich-behäbige »Berliner Morgenpost« nach. Doch sind es weltweit vor allem die linken, gewerkschaftsnahen Medien, die vom größten Streik der Menschheitsgeschichte berichteten.

Aurel Eschmann
forscht zu autoritären und neoliberalen Transformationen in Indien und China. Er arbeitete im Regionalbüro der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Delhi und war als Projektmanager für deren Südasienprogramm in Berlin tätig. Im Rahmen seines Masterstudiums studierte er unter anderem an der Jawaharlal-Nehru Universität (JNU) in Delhi.

Europäische Zerrbilder

Die tatsächliche Lage ist differenzierter: Es hat ein Massenstreik stattgefunden, doch sind jene 250 Millionen Beteiligten eine haltlose Übertreibung. Diese Zahl hatten die Dachgewerkschaften schon lange vor dem Streik in Umlauf gebracht; mit der tatsächlichen Mobilisierung hat sie nur wenig zu tun. Die linken unter den indischen Medien wissen um diese Dynamiken und übernehmen deshalb solche Zahlen nicht mehr. Und hätte tatsächlich ein knappes Sechstel der Bevölkerung gestreikt, wären die Auswirkungen derart massiv gewesen, dass nicht nur die indischen Medien, sondern auch westliche Korrespondent*innen darüber berichtet hätten. In den linken indischen Medien findet sich jedoch - mit Ausnahme der im kommunistisch regierten Kerala - nichts dergleichen. Dies zeigt, dass die Zahlen der tatsächlich Streikenden um ein Vielfaches geringer waren.

War also im Grunde gar nichts? Oder doch eine Art welthistorisches Großereignis? Beide »Nachrichtenlagen« zeugen davon, wie eurozentristisch der westliche Blick auf den Staat mit der zweitgrößten Bevölkerung der Welt noch immer ist. Das Nichtberichten im Mainstream zeugt gewiss von einiger Ignoranz gegenüber außereuropäischer Politik. Zu den Intentionen jener Streik-Sensationsberichte in linken westlichen Medien mag es gehören, auf dieses Desinteresse hinzuweisen. Doch geht es auch in diesen Berichten in einem erheblichen Maß nicht um die konkreten Verhältnisse in Indien, sondern darum, in Indien sich selbst zu sehen, um die eigenen Bedürfnisse und Hoffnungen: auf eine neue Sozialistische Internationale, die in Indien ihren Anfang nehmen könnte.

Diese ungeprüfte - und größtenteils unwidersprochene - Übernahme der haltlos überzogenen Zahlen durch linke Medien zeigt, dass auch solche Artikel sich kaum mit den Triebkräften und Inhalten der indischen Massenproteste auseinandersetzen, sondern die Proteste in die Agenda der Berichtenden einbetten, ja instrumentalisieren. Dabei werden die tatsächlichen Anliegen der Protestierenden im Globalen Süden am Ende nur auf eine andere Art marginalisiert als durch die totale Stille im Mainstream.

Diese Situation nannte die postkoloniale Theoretikerin Gayatri Chakravorty Spivak bereits 1985 in ihrem berühmten Essay »Can the subaltern speak?« den »double bind« - die Zwickmühle -, in dem sich die Marginalisierten des Südens befinden. Der Ausgangspunkt dieses Aufsatzes war die Art und Weise, in der zwei einflussreiche poststrukturalistische Marxisten in Frankreich, nämlich Gilles Deleuze und Michel Foucault, über Arbeitskämpfe in China korrespondierten. Spivak warf beiden vor, sich die südlichen Bewegungen lediglich für die Zwecke ihrer eigenen Theoriebildung anzueignen - und ihnen dabei die Stimmen zu rauben.

Welche Stimmen ergreifen also tatsächlich derzeit in Indien das Wort - und was sagen diese Stimmen? In der vergangenen Woche marschierten über 300 000 Bäuer*innen Hunderte Kilometer aus den westlich der Hauptstadt gelegenen Bundesstaaten Haryana und Punjab nach Neu-Delhi. Die Zentralregierung versperrte die Zufahrtsstraßen mit Stacheldraht, Betonblockaden und Wasserwerfern, sodass nur ein kleiner Teil der Demonstration in die Stadt vordringen konnte. Ein Großteil der Protestierenden verharrt derzeit an Delhis Stadtgrenzen und droht dort zu bleiben, bis die jüngsten »Reformen« der nationalen Landwirtschaftsgesetze zurückgenommen werden. Die Proteste richten sich vor allem gegen die vorgesehene Abschaffung der Mindestpreisgarantien für landwirtschaftliche Erzeugnisse. Gerade für Familienlandwirtschaften wäre das existenzbedrohend. Aber auch die zunehmend autoritären Methoden, mit denen die Zentralregierung derart weitreichende Deregulierungen unter Ausschluss der Bevölkerung durchsetzt, gehören zu den Auslösern der Proteste.

Seit dem Wahlsieg der Indischen Volkspartei (Bharatiya Janata Party, BJP) unter Narendra Modi 2014 sind die Hindunationalisten an der Macht. Ihre Agenda besteht in einem schleichenden Umbau der pluralistischen und multireligiösen indischen Gesellschaft in eine von den Hindus dominierte, zunehmend totalitäre. Die BJP ist Teil der sogenannten Familie des Sangh (Sangh Parivar), einer Gruppe hindunationalistischer Organisationen, die vom Nationalen Freiwilligenverband Rashtriya Swayamsevak Sangh (RSS) angeführt werden. Diese straff organisierte paramilitärische Massenbewegung wurde 1925 unter anderem nach dem Vorbild der nationalsozialistischen Sturmabteilung (SA) aufgebaut. Heute gehören ihr rund fünf Millionen Menschen an.

Fundament des hindunationalistischen Programms ist eine Rückkehr zu einer »Hindu-Großartigkeit«, bereinigt vor allem von muslimischen Einflüssen. Muslime machen jedoch mit knapp 200 Millionen Menschen fast 14 Prozent der indischen Bevölkerung aus. Zu der bereits bestehenden ökonomischen und sozialen Diskriminierung kommt in jüngerer Zeit immer öfter Straßengewalt durch RSS-Mobs. Zugleich treibt die BJP unter Premierminister Narendra Modi eine zunehmend unsoziale neoliberale Politik voran, deren verheerende Folgen meist die schwächsten Gruppen in der indischen Gesellschaft tragen müssen.

Korrespondierende Protestwellen

Der Widerstand gegen die neuen Landwirtschaftsgesetze kann als jüngste Welle einer schon lange andauernden Protestbewegung gegen die autoritäre Transformation in Indien gesehen werden. Allerdings werden die Proteste - anders, als linke Medien im Westen glauben und glauben machen wollen - nicht mehr von den Gewerkschaften angeführt. Diese sind infolge der bereits seit 1990, also lange vor der Modi-Administration, umgesetzten Liberalisierungen weitgehend entmachtet. Außerdem haben sie große Schwierigkeiten, die rund 93 Prozent der indischen Arbeiter*innen im informellen Sektor zu organisieren und vertreten. Statt ihrer steht in jener anhaltenden und heterogenen Protestwelle jeweils die Gruppe, die von den jeweiligen Vorstößen der Zentralregierung am stärksten betroffen ist - mal also Muslime, mal Frauen und mal, wie jetzt wieder, die kleinbäuerliche Landbevölkerung. Bemerkenswert ist indes, dass die jeweils im Fokus Stehenden von einem immer breiter werdenden Spektrum verschiedener Gruppen solidarisch unterstützt werden.

Während die protestierenden und von der Regierung als »antinational« gebrandmarkten Studierenden und Hochschullehrkräfte in ihren Kämpfen der Jahre 2016 bis 2018 noch weitgehend alleine dastanden, veränderte sich die Lage spätestens in der monatelangen Mobilisierung gegen das neue Staatsbürgerschaftsgesetz im Jahr 2019 grundlegend. Auch hier standen zwar zunächst die vornehmlich betroffenen Minderheiten im Mittelpunkt, allen voran die Muslime und Adivasi - die indischen Indigenen, die etwa zehn Prozent der Bevölkerung stellen. Doch wurden diese nunmehr von einem landesweiten Aufbäumen der Zivilgesellschaft unterstützt, das diverse Akteure von Frauen- oder Dalit-Grassroots-Organisationen über Studierende und linke Intellektuelle bis hin zu Gewerkschaften und linken Parteien umspannte. Diese Allianz setzte die Regierung stark unter Druck, bis die Proteste durch einen strengen Covid-19-Lockdown und durch gewaltsame Übergriffe gegenüber Muslimen in Delhi gestoppt wurden.

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Dennoch bleibt jene Bewegung gegen die neuen Staatsbürgergesetze Dreh- und Angelpunkt des neuen Widerstandes gegen den regierenden Hindunationalismus. Auch die Proteste im September 2020, die von der Vergewaltigung einer Dalit-Frau durch eine Gruppe hochkastiger Männer im Ort Hathras im Bundesstaat Uttar Pradesh ausgelöst wurden, zeugen von dem wachsenden solidarischen Bündnis. Noch nie in der indischen Geschichte hat Gewalt gegen eine Dalit-Frau - die Dalit sind die vom Kastensystem am stärksten Diskriminierten, sie finden sich in allen Religionsgemeinschaften - Demonstrationen von solcher Größe und Reichweite ausgelöst. Auch hier wandte sich der Protest gegen den Staat, der die Ermittlungen zunächst verhindert hatte.

Jede Protestwelle verbindet neue Akteure gegen die Regierung. Und mit jeder Welle wird es für diese schwieriger, die Protestierenden mit Vorwürfen des Antinationalismus oder gar Terrorismus öffentlich zu delegitimieren. Zwar haben die Protestierenden auf nationaler Ebene bisher kaum politische Erfolge erzielt. Allmählich bildet sich aber eine stabile Bewegungsallianz heraus, die sich trotz ihrer Heterogenität nicht mehr so einfach spalten lässt.

Bisher konnte die BJP ihre parlamentarische Dominanz sowohl national als auch auf Bundesstaatsebene gut verteidigen. Doch Anfang November gab es bei den Wahlen im nördlichen, an Nepal grenzenden Bundesstaat Bihar - mit rund 100 Millionen Menschen der Bundesstaat mit der drittgrößten Bevölkerung - auch eine Überraschung: Die kommunistischen Parteien, allen voran die marxistisch-leninistische Partei CPI (ML)-Liberation erzielten große Zugewinne. Zwar kommen sie zusammen nur auf knapp 4,6 Prozent der Gesamtstimmen, sie konnten aber 16 der 29 Wahlbezirke, in denen sie antraten, für sich entscheiden.

Absetzen der Brillen

Das politische Geschehen im verarmten Bihar gilt in Indien als stark an Kastenidentitäten orientiert; bisher hatten es die kommunistischen Parteien stets abgelehnt, sich politisch darauf zu beziehen. Die jetzigen Erfolge lassen sich auch darauf zurückführen, dass sie diesmal Flexibilität zeigten und mit Dalit- sowie Muslim-Grassroots-Organisationen und entsprechenden Parteien zusammenarbeiteten. Damit bewiesen sie einen neuen Sinn für die neuen Bewegungsallianzen, die sich in Indien in Opposition zum Hindunationalismus herausbilden.

Ein solches konkretes Sich-Einlassen auf sich bewegende Wirklichkeiten täte auch der westlichen Linken in ihrem Blick auf Länder wie Indien gut. Die eurozentrische Perspektive, die letztlich auch in der Ferne immer nur sich selbst erkennt, verstellt den Blick nicht minder als die orientalistische, die vor den »unübersichtlichen« und vermeintlich ganz »andersartigen« Realitäten im Globalen Süden kapituliert. Wer beide dieser Scheuklappen ablegt, erkennt in Indien eine wachsende Protestbewegung, der es zunehmend gelingt, sich über Identitäts- und Interessengruppen hinaus gegen die indische Variante des neoliberalen Autoritarismus zu organisieren. Davon ließe sich auch im Westen einiges lernen, der vom Anbranden des autoritären Ethnonationalismus nicht verschont bleibt. Zugleich ist auch die indische Bewegung auf internationale Solidarität dringend angewiesen - die allerdings eine angemessene, tiefer gehende Analyse der dortigen Verhältnisse voraussetzt.

Selbstverständlich sind auch die indischen Gewerkschaften ein Faktor, den kennenzulernen sich lohnt. Die westliche, oft auch aus Unkenntnis resultierende, Konzentration auf jene von diesen gemeldeten Gigamobilisierungen trägt indes mehr zur Verschleierung der Lage bei. Unterschwellig wird dabei ein Desinteresse an asiatischer Politik und Protesten im Allgemeinen transportiert. Wenn nämlich in Indien wirklich 250 Millionen Menschen streikten, ohne dass man lokal oder international einen sichtbaren Effekt verzeichnen würde, bestärkt dies am Ende Einstellungen, die den Blick nach Indien oder sogar Proteste im Allgemeinen für irrelevant halten.

Diese eurozentrischen und orientalistischen Linsen zu durchbrechen ist nicht nur geboten, sondern auch möglich. Doch bedarf es dafür zusätzlicher Reflektions- und Verständnisarbeit.

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