Leiden im Maskulinum

Der Gesundheitshistoriker Christoph Schwamm über männliche Psychiatriepatienten in der alten BRD

  • Andreas Meinzer
  • Lesedauer: 7 Min.

Sie haben psychiatrische Krankenakten Hunderter Männer in der alten BRD studiert. Was kann man daraus lernen?

Diese Arbeit ist die erste und meines Wissens immer noch einzige, in der Männer mit psychischen Störungen aus einer gesundheitsgeschichtlichen Perspektive betrachtet werden. Verschiedene Denkschulen, erwähnt sei nur an Michel Foucaults 1961 erschienenes Buch «Wahnsinn und Gesellschaft», haben die Gesellschaftswissenschaft und die Öffentlichkeit in den vergangenen Jahrzehnten für die politische Bedeutung der Psychiatrie sensibilisiert. Dabei hat man sich mit beidem - psychischer Krankheit und Geschlecht - intensiv beschäftigt. Dennoch gab es einen blinden Fleck: Der Mensch, der hegemoniale Männlichkeit verkörpert, taucht nie selbst als Betroffener psychischer Krankheiten auf. Die Lücke hat mich interessiert.

Christoph Schwamm (Dr. phil.)
Christoph Schwamm (Dr. phil.), geboren 1985, hat als Stipendiat des Instituts für Geschichte der Medizin der Robert-Bosch-Stiftung zum Thema »Psychische Erkrankung von Männern in der Bundesrepublik Deutschland 1949–1990« promoviert. Andreas Meinzer sprach mit ihm über die Fragen, wie sich psychiatrische Diagnosen zu gesellschaftlichen Rollenerwartungen verhalten, wie sich die Kulturreformbewegungen von 1968 auf dieses Verhältnis auswirkten – und warum sich Männer bis heute weniger »gesundheitsbewusst« verhalten als Frauen. 

Wie haben Sie die 681 Patientenakten ausgewählt - und warum den Untersuchungszeitraum von 1948 bis 1990?

Die Akten wurden zufällig ausgewählt. Der Zeitraum orientiert sich an der These der «nachholenden Medikalisierung». Dem gesundheitsgeschichtlichen Konzept der «Medikalisierung» zufolge eignete sich die Medizin seit der Aufklärung die Frauen in einem weit stärkeren Maße an als die Männer. Einige Gesundheitswissenschaftler beobachten nun in den vergangenen drei, vier Dekaden ein wachsendes «Gesundheitsbewusstsein» bei Männern. Machttheoretisch gesprochen: Männer holen ihre Unterwerfung durch das Gesundheitsregime selbst nach. Der Zeitraum von 1948 bis etwa 1990 bietet Gelegenheit, diese Annahme zu überprüfen.

Was ist «hegemoniale Männlichkeit»?

Stark verkürzt: Hegemoniale Männlichkeit verkörpert ein Mann, wenn er bevorzugten Zugang zu gesellschaftlicher und ökonomischer Macht besitzt. Diese nutzt er, um eine dominante Position gegenüber anderen Männern zu behaupten. Der Kampf um die Hegemonie kann je nach Situation unterschiedliche Folgen für das Gesundheitsverhalten dieses Mannes haben. Überfordert er sich? Oder hält ihn seine privilegierte Stellung gesund?

Was sind «typisch männliche» Diagnosen?

Männern wurden und werden vermehrt Diagnosen gestellt, die sich auf externalisierendes Verhalten beziehen: Sucht- und Abhängigkeitsbezogene Störungen, Bipolare Manie, zudem sogenannte Kriminalitätsdiagnosen, wie die Narzisstische oder die Dissoziale Persönlichkeitsstörung. Auch Störungen der Sexualpräferenz - früher Perversionen genannt - gehören dazu. Frauen wurden hingegen vermehrt mit Diagnosen versehen, die ein internalisierendes Verhalten problematisieren, wie etwa Depressionen und Angststörungen.

Gesellschaftlich betrachtet: Was wurde hier eigentlich diagnostiziert? Ein «zu viel» an Männlichkeit - also von dem, was allgemein von Männern erwartet wird und was sie unter Rollendruck setzt? Ein «zu wenig?

Beides. Ein klassisches Beispiel für ein »zu viel des Guten« war der prügelnde Ehemann: Von einem Familienvater wurde erwartet, dass er seine Vormachtstellung durchsetzt. Ein Fall für den Psychiater wurde er nur, wenn die dabei eingesetzte Gewalt so überhandnahm, dass sie die öffentliche Ordnung störte. Der komplementäre Fall war der sogenannte Neurastheniker. Hier konnte es als Symptom gedeutet werde, wenn etwa die Ehefrau in den Augen des Psychiaters dem Patienten gegenüber zu dominant auftrat.

Schauen wir auf die diagnostizierende Seite: Standen nicht die Psychiater in einem Spannungsfeld zwischen tradierten Normen und Werten, etwa gegenüber Homosexualität, unter denen die Patienten ja auch litten? Und in das sie diese aber gerade reintegrieren sollten?

Oh ja. Es waren nicht umsonst Psychiater und Psychosomatiker, die in den 1970ern zu den schärfsten Kritikern des eigenen Berufes wurden. An der Psychiatrischen Uniklinik Heidelberg mussten Assistenzärzte mit Professoren zusammenarbeiten, die im Nationalsozialismus geistig behinderte Kinder hatten ermorden lassen, um deren Gehirne zu studieren. Man wusste, wohin die Einteilung in »gesund« und »krank« führen kann.

Wie ging die westdeutsche Psychiatrie mit Weltkriegserfahrungen um? Gab es besonderes Verständnis etwa für ehemalige Soldaten?

Zumindest nicht vor 1970. Ihre Beschwerden wurden systematisch als zweckgebunden und intentional gedeutet. Sogar ein Pionier der Psychotraumatologie sprach von einer »Flucht in die Krankheit« der Trauma-Opfer, die Krankheitssymptome »vorschützten«, um »als Sozialrentner den Anforderungen des Alltags auszuweichen, seine Lebensuntüchtigkeit hinter einem unschuldig erlittenen Schicksal zu verbergen oder einfach, um aus der Tatsache des Versichertseins materielle Vorteile zu ziehen«, wie es in einer Krankenakte heißt.

Es klingt an, dass ungefähr das Jahr 1970 einen Epochenbruch markiert. Galt nun tendenziell etwas anderes als »männlich« oder »unmännlich« - also pathologisch?

Tatsächlich erfuhr Verhalten, das man überwiegend mit Männern in Verbindung bringt, ab etwa 1970 einen auffallenden Bedeutungswandel: Aggressivität, Gewalttätigkeit, problematischer Alkoholkonsum oder fehlender Zugang zu den eigenen Gefühlen - die sogenannte Alexithymie - wurden seit den 70ern zunehmend als Störungen konzipiert, die eine psychosoziale Entstehungsgeschichte haben. Dies machte den Weg frei für eine Therapeutisierung betroffener Männer. Auch der Alkoholismus ist in etwa seit dieser Zeit sozialrechtlich als Krankheit anerkannt, wurde also pathologisiert. Umgekehrt wurde die Homosexualität schrittweise entpathologisiert.

Welchen Einfluss hatten Geschlechterdiskurse, die Zweite Frauenbewegung oder die Psychiatriekritik »nach ’68« - Stichworte »neue Männlichkeit«, Pluralisierung und Individualisierung des Männerbildes - auf das Selbstbild der Männer, die sich in Behandlung begaben? Und auf Selbstbild und Methoden der Psychiater?

Die sozialen Bewegungen »nach ’68« haben all das stark beeinflusst. Aus der Zweiten Frauenbewegung entstand die kritische Männerbewegung, die in ihrem Männerbild tief von der Psychoanalyse geprägt war. Klaus Theweleits Buch »Männerphantasien« etwa liegt die Objektbeziehungstheorie Margaret Mahlers zugrunde. Etwa seit den 80ern existiert mit dem »Neuen Mann« ein Entwurf für eine verletzungsoffene Männlichkeit. Zeitgleich trat seit den 70er Jahren allmählich eine neue Generation von Psychiatern, Psychotherapeuten und Psychosomatikern an, die für die spezifischen Bedürfnisse ihrer männlichen Patienten ein differenzierteres Verständnis entwickelte.

Inwieweit beeinflusst das Geschlecht die individuelle und gesellschaftliche Gesundheitsvorsorge, die Einsicht in die eigene Behandlungsbedürftigkeit?

Generell schließen sich sozial erwünschte Männlichkeit und wesentliche Eigenschaften adaptiven Gesundheitsverhaltens aus.

Bis zu dem Bruch um 1970? Bis heute?

Im Grunde bis heute, auch wenn sich die Lage etwas verändert hat. Es geht hier sowohl um die Fähigkeit, den eigenen Zustand realistisch einzuschätzen, als auch um die Bereitschaft, in dieser Hinsicht für sich selbst zu sorgen. Aber bekanntermaßen bilden Geschlechterleitprinzipien wie die hegemoniale Männlichkeit nicht die Alltagswelt ab, in denen Menschen handeln. Interessant wird es, wenn man untersucht, unter welchen Umständen der Rollendruck seine Wirkung entfaltet - und wann nicht.

Und? Welche Umstände erfordern besonders viel »Männlichkeit« von Männern?

Nur ein Beispiel: Auf männlichen Jugendlichen lastet ein enormer Rollendruck. Nicht umsonst ist der Suizid zweithäufigste Todesursache in diesem Alter. Die häufigste ist der Verkehrstod - oft bedingt durch riskantes Fahren. Es sind weit überwiegend Männer, die schon in diesem Alter Suchterkrankungen entwickeln. All das hängt mit einer überaus schmerzhaften Findung der eigenen Geschlechtsidentität zusammen.

Ist der »psychiatrische Blick« ein Korrektiv zur individuellen Patientenperspektive?

Das Risiko der Stigmatisierung subalterner Gruppen durch die ärztliche Perspektive ist hinlänglich bekannt. Bei den von mir untersuchten männlichen Psychiatriepatienten in der Akutversorgung handelte es sich jedoch tendenziell nicht um Menschen mit einem besonders ausgeprägten Gesundheitsbewusstsein, also nicht um Menschen, die die Normen des Gesundheitsregimes verinnerlicht hätten. Insofern fand ich es vertretbar, sich ein Stück weit auf den ärztlichen Blick einzulassen, um überhaupt zu einem Bild der psychischen Gesundheit von Männern zu gelangen. Dies war durchaus eine Gratwanderung. Es gab ja in den 70er Jahren in den Kliniken massiven politischen Protest durch Patienten gegen die Psychiatrie. Das bekannteste Beispiel ist das Sozialistische Patientenkollektiv (SPK) in Heidelberg. Die Proteste waren angesichts der Zustände, die damals in Psychiatrien herrschten, auch völlig angemessen, was man nicht vergessen darf. Nach meinem Erachten hatte aber auch der Blick der Ärzte eine gewisse Berechtigung, die die Rebellion ihrer Patienten im Grunde als Handlungen gestörter Persönlichkeiten sahen.

Welche Strategien entwickelten Patienten und Ärzte zur Bewältigung der diagnostizierten Pathologien? Wie wurde die Produktion und Reproduktion von Männlichkeitsbildern von Patienten in der Klinik praktiziert? Entstanden dadurch neue »Leitmännlichkeiten« - oder aber auch Impulse für ein neues, emanzipatorischeres Männerbild?

Grundsätzlich war eine psychiatrische Diagnose immer auch eine potenzielle Kränkung der Männlichkeit eines Patienten. Die Psychiatrie wurde dann zum Raum, innerhalb dessen diese Männlichkeit wiederhergestellt werden musste. Bislang hat man in den Gesundheitswissenschaften dieses »doing masculinity« als Gesundheitsrisiko betrachtet. Fehlende Krankheitseinsicht, mangelnde Behandlungsbereitschaft, Selbstmedikation mit Alkohol und anderen Drogen - all dies und mehr wird zu Recht als Gesundheitsrisiko betrachtet. Schaut man aber genauer hin, dann wird sichtbar, dass für viele Männer ihre Geschlechtsidentität für ihr Handeln überhaupt keine Rolle spielte. Und umgekehrt lässt sich beobachten, dass Männer, die sich aktiv um ihre Gesundheit kümmerten, etwa durch Sport, Ernährung oder Meditation, regelmäßig dafür abgewertet wurden. Man erfuhr überhaupt nur etwas über gesundheitsbewusste Männer, weil Psychiater genau dieses Bewusstsein im Behandlungsablauf als Störungen dokumentierten.

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