nd-aktuell.de / 15.12.2020 / Kultur / Seite 14

Aus Gründen des Gewissens

Hannah Brinkmann über den Suizid ihres Onkels sowie Kriegsdienstverweigerung gestern und heute

Karlen Vesper

Sie waren noch nicht geboren, als Ihr Onkel Hermann Brinkmann aus Verzweiflung Suizid beging. Er war gegen sein Gewissen zum Dienst in der Bundeswehr gezwungen worden. Was motivierte Sie, seine Geschichte publizistisch zu verarbeiten? Der allgemein familiär-moralische Hintergrund?

Niemand in meiner Familie wäre freiwillig zur Bundeswehr gegangen. Meine Brüder wurden beide ausgemustert, und viele meiner Klassenkameraden haben sich ganz selbstverständlich Strategien überlegt, um ausgemustert zu werden. Nur ich, als junge Frau, hatte keine wirklichen Berührungspunkte mit der Bundeswehr - bis ich anfing, mich mit Hermanns Geschichte zu beschäftigen. Nachdem ich erfahren habe, was Kriegsdienstverweigerer in Deutschland damals durchmachen mussten, wurde mir klar, dass dies nicht nur eine persönliche Geschichte ist, die unsere Familie betrifft, sondern dass sie für einen Skandal der deutschen Nachkriegsgeschichte und das Schicksal so vieler junger Männer steht, die schikaniert und gedemütigt worden sind. So ist bei mir ein Bewusstsein für das Thema entstanden. Und ich denke, es ist wichtig, vor allem den Generationen, die nicht mehr mit der Wehrplicht konfrontiert werden, klarzumachen, dass dies nicht selbstverständlich ist, dass dafür Opfer dafür gebracht wurden.

»Niemand darf gegen sein Gewissen zum Kriegsdienst mit der Waffe gezwungen werden«, heißt es im Grundgesetz. Ein verlogener Paragraf?

Ich glaube, dass hinter Artikel 4 Absatz 3 durchaus eine gute Absicht stand. Doch dann wurde er von der Adenauer-Regierung so verdreht, dass damit die Wehrpflicht gerechtfertigt wurde. Denn warum hätte man ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung im Grundgesetz etablieren sollen, wenn die Wehrpflicht nicht von Anfang an vorgesehen war - so die Argumentation. Die Einführung des Prüfungsverfahrens, die sogenannte Gewissensprüfung, war dann die endgültige Umgehung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung. Ein Kriegsdienstverweigerer musste seine Gewissensentscheidung glaubwürdig beweisen, darlegen, was er denkt. Die Urteile der Vorsitzenden und Beisitzer der Prüfungsverfahren fielen komplett willkürlich aus. In der Praxis waren die Konfliktfragen darauf zugeschnitten, den Verweigerer scheitern zu lassen.

Zum Beispiel?

Es wurde gefragt: »Würden Sie ein Flugzeug abschießen, von dem Sie wissen, dass es seine Bombenlast über einer Stadt abwerfen wird?« Man konnte darauf keine richtige oder falsche Antwort geben. Egal wie der Antragsteller antwortete, die Antwort konnte gegen ihn ausgelegt werden. Verweigerte man die Antwort, konnte das als »ausweichendes Verhalten« interpretiert werden. Es war für mich wichtig, darzustellen, was während dieser berüchtigten und gefürchteten Gewissensprüfung passiert ist, welchem Stress, welcher Demütigung und welcher Schikane Kriegsdienstverweigerer ausgesetzt waren. Gewissensprüfungen gibt es übrigens auch heute noch. Soldatinnen und Soldaten berufen sich auf Artikel 4 Absatz 3 des Grundgesetzes und müssen in mündlichen Verfahren ihre Gewissensnot beweisen. Nur etwa die Hälfte wird anerkannt.

Ein Bruder Ihres Onkels ließ sich gesundheitlich ausmustern, ein anderer entzog sich dem Wehrdienst durch Übersiedelung nach Westberlin, da in der sogenannten Frontstadt die Wehrpflicht nicht galt. Warum Ihr Onkel Hermann nicht?

Hermann wollte als Pazifist den Dienst an der Waffe verweigern. Die Geschwister diskutieren in meinem Buch darüber. Hermanns ältester Bruder, im Buch Eduard, fragt: »Warum hast du dich nicht in Berlin gemeldet?« Hermann antwortet: »Ich ducke mich nicht weg, ich stehe ein für meine Ideale.«

Hermann war bei Weitem nicht der einzige junge Mann, der sich für diesen Weg entschied. Kriegsdienstverweigerer wollten so ein Zeichen setzen. Die Zahl der Verweigerer von über 33 000 jungen Männern allein 1973 spricht Bände. Auch wenn von ihnen nur etwa 42 Prozent anerkannt wurden, so machten die Kriegsdienstverweigerer dennoch auf ihre Motive aufmerksam.

Vor zehn Jahren wurde unter dem damaligen Bundesverteidigungsminister Karl- Theodor zu Guttenberg der Wehrdienst abgeschafft.

Die Wehrpflicht ist nur ausgesetzt, immer wieder kommt das Thema der Wiedereinführung hoch. Als junger Mensch muss man darauf vorbereitet sein, was dies bedeuten kann. Hermanns Schicksal ist ein warnendes, mahnendes Beispiel. Seit der Veröffentlichung des Buches bekomme ich viele E-Mails von Verweigerern oder Angehörigen von solchen, die mir von ganz ähnlichen Kämpfen und Schicksalen berichten. Als die Wehrpflicht vor zehn Jahren ausgesetzt wurde, war das längst überfällig.

Was empfinden Sie, wenn Sie von Politikern hierzulande, jüngst erst wieder von der Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer, hören, dass Deutschland mehr militärische Verantwortung in der Welt übernehmen muss? Seit 1992 kamen bei sogenannten Auslandseinsätzen 114 Bundeswehrsoldaten ums Leben, 22 davon begingen Suizid.

Die fehlende Anerkennung von Kriegsdienstverweigerern ist ein Problem, unter dem viele junge Männer und Frauen auch in anderen Ländern leiden. Sie werden gezwungen, einen Dienst an der Waffe abzuleisten, obwohl dieser gegen ihre moralische, politische, ethische oder seelische Überzeugung steht. Es ist wichtig, dass ein Bewusstsein geschaffen wird für ein Grundrecht, das im Falle meines Onkels und Tausender deutscher Kriegsdienstverweigerer mit Füßen getreten wurde und auch heute noch viel zu oft nicht gewährt wird. Obwohl die UN die Kriegsdienstverweigerung seit 1987 als Menschenrecht anerkennt.

Hinzu kommt, dass deutsche Gerichte die Verfolgung wegen Kriegsdienstverweigerung nicht als Asylgrund ansehen. Bis heute stellt die Bundesrepublik also das Recht anderer Länder, die Wehrpflicht durchzusetzen, über das Recht des Einzelnen, den Dienst an der Waffe zu verweigern. Ich sehe die Verantwortung aller, sowohl von politischen Entscheidungsträgern wie auch der Zivilgesellschaft darin, diesen unsäglichen Zustand endlich zu beenden.