nd-aktuell.de / 23.12.2020 / Kommentare / Seite 10

Per Los zu mehr Demokratie

Vertrauen stärken: Ricarda Lang plädiert für zufällig ausgewählte Bürger*innenräte statt Volksentscheide

Ricarda Lang

Nicht nur hierzulande, sondern weltweit, stehen demokratische Errungenschaften unter Beschuss. Ich wurde 1994 geboren, meine Jugend war geprägt von einer wirkmächtigen Erzählung: Dem Ende der Geschichte. Also der Vorstellung, dass sich nach dem Zerfall der Sowjetunion gemeinsam mit dem Kapitalismus auch die Demokratie endgültig und überall durchsetzen würde. Das letzte Jahrzehnt hat gezeigt, dass dies kein Automatismus ist, sondern im Gegenteil: Dass Demokratie immer wieder aufs Neue verteidigt und gestärkt werden muss.

Das geht nicht ohne Vertrauen in demokratische Prozesse. Aktiv einbringen will sich, wer denkt, dass sich dadurch etwas verändert. Studien zeigen, dass dieses Vertrauen bröckelt. Und tatsächlich gibt es massive Repräsentationslücken, wenn zum Beispiel im Bundestag kaum Menschen ohne Studienabschluss sitzen. Eine Politik, die Vertrauen in die Demokratie stärken und an manchen Stellen zurück erobern will, muss es sich zur Aufgabe machen, diese Lücken zu schließen. Dazu gehört auch, die repräsentative Demokratie um Formen der direkten Beteiligung zu ergänzen.

Darüber haben wir als Grüne im Rahmen unseres Grundsatzprogramms und auch auf unserem Parteitag intensiv diskutiert[1]. Die argumentativen Linien verliefen dabei nicht zwischen Vorstand und Basis, sondern quer durch die Partei. Dass wir neue und bessere Formen der direkten Beteiligung von Bürger*innen wollen, darüber besteht Einigkeit, das fordern wir seit Jahren. Denn wir sind überzeugt: Es ist die Essenz demokratischer Systeme, dass frische Ideen aktiv eingebracht werden und Menschen aus allen Teilen der Gesellschaft partizipieren können. Die Frage ist aber, welche Instrumente geeignet sind, um Partizipation und Vertrauen in die Demokratie zu stärken. Als Partei haben wir uns mehrheitlich für geloste Bürger*innenräte entschieden.

Im Gegensatz zu Volksentscheiden, die komplexe Fragestellungen auf Ja-Nein-Antworten reduzieren müssen, bieten Bürger*innenräte ein Forum für breite, informierte und differenzierte Debatten über gesamtgesellschaftliche Herausforderungen. Sie binden durch Losverfahren Menschen ein, deren Perspektive in der öffentlichen Debatte oft unzureichend vertreten ist. Sie zeigen ihnen, dass sie etwas bewegen können und bringen Menschen, die sonst nicht miteinander ins Gespräch kommen, an einen Tisch. Genau das schafft Zusammenhalt in einer vielfältigen Gesellschaft.

Erfolgreiche Beispiele wie in Irland oder Baden-Württemberg zeigen, dass Bürger*innenräte ausgewogene Debatten zulassen, in denen Beteiligte aufeinander zugehen und zusammen lernen. Verzahnt mit parlamentarischen Prozessen sind sie ein effektiver Weg, mehr Menschen in parlamentarische Entscheidungen einzubinden und diese inklusiver, diverser und damit besser zu machen.

Bürger*innenräte haben einen weiteren entscheidenden Vorteil: durch den kollektiven Beratungsprozess sind sie kaum anfällig für Populismus. Volksentscheide dagegen tragen in der Zuspitzung auf einfache Antworten teils unfreiwillig zur Polarisierung der Gesellschaft bei. Dieser Effekt hat sich in den letzten Jahren durch den großen Einfluss der Sozialen Medien noch mal deutlich verstärkt. Zudem besteht das Risiko, dass sich vor allem Menschen einbringen und durchsetzen, die viel Zeit und Geld mitbringen. Also in aller Regel nicht jene Menschen, deren Forderungen unterrepräsentiert sind. Sinnbildlich dafür steht der Volksentscheid gegen die Verlängerung der Grundschulzeit in Hamburg[2]. Das heißt nicht, dass bundesweite Volksentscheide, mit klaren Fristen, Informationen und dem Schutz von Grund- und Minderheitenrechten, per se falsch sind. Aber sie sind nicht das richtige Instrument, um die Repräsentationskrise unserer Demokratie zu lösen, vielmehr können sie in der Phase, in der sich unsere Demokratie befindet, Probleme verschärfen.

Wir sind überzeugt: Direkte Beteiligungsmöglichkeiten bereichern die repräsentative Demokratie. Und es ist Aufgabe der Politik, Menschen von der repräsentativen Demokratie zu überzeugen. Indem wir ihre Handlungsfähigkeit beweisen und indem wir sie stärken, indem wir zum Austausch beitragen und Brücken bauen. Mit einer Senkung des Wahlalters, mit Parteien die mehr Menschen einbinden, mit Parität, mit der Stärkung der Zivilgesellschaft, der Demokratisierung von Schulen und Betrieben, klaren Lobbygesetzen – und mit Bürger*innenräten, die unterschiedliche Menschen an einen Tisch bringen.

Ricarda Lang ist Stellvertretende Bundesvorsitzende von Bündnis 90/Die Grünen.

Links:

  1. https://www.nd-aktuell.de/artikel/1144740.gruenen-parteitag-revolutionaer-wie-ein-bausparvertrag.html
  2. https://www.sueddeutsche.de/karriere/volksentscheid-zur-grundschulzeit-hamburg-hat-gesprochen-primarschule-abgelehnt-1.976627