nd-aktuell.de / 19.12.2020 / Politik / Seite 21

Spuren nach Ermreuth

Vor 40 Jahren wurde in Erlangen ein antisemitischer Doppelmord verübt. Die Tat gilt als geklärt, es wurde aber niemand dafür verurteilt.

Martina Renner und Sebastian Wehrhahn

Das Jahr 1980 war mit 20 Toten ein blutiger Höhepunkt des deutschen Rechtsterrorismus. Wenige Wochen, nachdem in München eine Bombe am Eingang zur Theresienwiese 13 Menschen tötete und über 200 verletzte, ereignete sich gleichfalls in Bayern ein weniger bekannter Fall: In Erlangen wurden Shlomo Lewin und Frida Poeschke erschossen. Beide Mordanschläge gelten bis heute als Werk rechtsextremer Einzeltäter, obwohl viele Umstände auf Mittäter deuten. In beiden Fällen gibt es Verbindungen zur Wehrsportgruppe (WSG) Hoffmann, einer der wichtigsten neonazistischen Organisationen dieser Zeit. Und beide Fälle gelten als aufgeklärt, obwohl etliche Umstände und Hintergründe völlig unklar sind.

Als Mörder von Lewin und Poeschke gilt Uwe Behrendt, geboren 1951 im thüringischen Pößneck. Er war einer der engsten Vertrauten von Wehrsportgruppen-Chef Karl-Heinz Hoffmann und soll sich 1981 nach seiner Flucht in den Libanon dort das Leben genommen haben. Eine weitere Parallele zum Anschlag auf das Oktoberfest: Auch hier konnte der vermeintliche Einzeltäter nicht vor Gericht gestellt werden, weil er beim Anschlag selbst starb.

Lewin und Poeschke wurden am 19. Dezember, einem Schabbatabend, in ihrem Bungalow getötet. Der oder die Täter feuerten auf beide zunächst drei Schüsse in den Körper und schließlich einen in den Kopf. Am Tatort blieben neben den Patronenhülsen auch die Reste eines selbst gebauten Schalldämpfers und eine Sonnenbrille zurück.

All das hätte die Ermittler auf die Spur von Karl-Heinz-Hoffmann und seine Wehrsportgruppe bringen können. Die Patronenhülsen wiesen charakteristische Merkmale auf, die darauf hindeuteten, dass die Waffe, mit der die Schüsse abgefeuert wurden, früher einmal verlötet gewesen sein musste. Im nur wenige Kilometer vom Tatort entfernten Schloss Ermreuth wohnte der Chef der im Januar 1980 verbotenen Wehrsportgruppe, die unter anderem Übungen mit verlöteten Waffen durchgeführt hatte. Auch die Brille wies nach Ermreuth. Sie enthielt eine Herstellergravur der Firma Schubert und war eine Sonderanfertigung für Franziska Birkmann, die enge Vertraute und Lebensgefährtin von Karl-Heinz Hoffmann. Vor ihrem Umzug nach Ermreuth wohnten die beiden Neonazis in unmittelbarer Nachbarschaft der Firma Schubert. Später stellte sich zudem heraus, dass Hoffmann zusammen mit Behrendt an genau so einem Schalldämpfer gearbeitet hatte, wie er bei der Tat Verwendung fand und mit genau so einer Waffe, wie sie bei der Tat verwendet wurde, zusammen mit Behrendt geschossen hatte.

Doch statt die Täter in der rechten Szene zu suchen, konzentrierten sich die Ermittlungen in den Wochen nach der Tat auf die israelitische Kultusgemeinde Nürnberg, deren Vorsitzender Lewin einmal gewesen war. Verschiedene deutsche und internationale Medien spekulierten völlig gegenstandslos über eine »schillernde Vergangenheit« Lewins und ließen die Mutmaßungen darin gipfeln, ihm geheimdienstliche Tätigkeiten für Israel zu unterstellen.

Hoffmann reiste in dieser Zeit immer wieder in den Libanon, wo er nach dem Verbot der WSG Hoffmann in Deutschland mit Unterstützung der PLO eine neue Gruppierung aufbaute. Dafür hatte er deutsche Neonazis rekrutiert. Statt aktiver Teilnahme am terroristischen Kampf gegen Israel war der Alltag im Ausbildungslager jedoch von sadistischen Gängelungen geprägt, die Hoffmann bei Regelverstößen anordnete. WSG-Mitglied Kay-Uwe Bergmann, der wiederholt gegen das Rauchverbot verstieß und nach einem Krankenhausaufenthalt dem Verdacht ausgesetzt war, mithilfe der Vereinten Nationen aus dem Lager fliehen zu wollen, wurde so schwer misshandelt, dass er vermutlich im Februar 1981 starb. Seine Leiche wurde nie gefunden.

Ebenfalls im Februar, Monate nach der Tat, wurde Franziska Birkmann das erste Mal vernommen, erst im Mai wurde das Schloss Ermreuth durchsucht. Dabei fanden die Ermittler unter anderem Perücken, von denen eine jener glich, die eine Zeugin in der Mordnacht an einem Mann in der Nähe des Tatortes gesehen hatte. Bedeutung erhielt diese Perücke im Laufe der Vernehmungen verschiedener aus dem Libanon zurückgekehrter WSG-Mitglieder. Mittlerweile ermittelten deutsche Behörden in Bezug auf die Wehrsportgruppe unter anderem wegen Bildung einer terroristischen Vereinigung.

Im Zuge der Befragungen gaben zwei WSG-Mitglieder an, Hoffmann habe versucht, sie für einen Mord an einem Juden in Deutschland zu rekrutieren. Insbesondere eine der beiden Aussagen belastete Hoffmann. Sie enthielt etliche Details, die auch die Tat in Erlangen auszeichnen. Hoffmann habe dem WSG-Mitglied gegenüber davon gesprochen, dass ein älterer Jude in der Nähe von Ermreuth erschossen werden sollte. Sollten neben ihm noch weitere Personen anwesend sein, müssten die ebenfalls getötet werden. Für die Tat sollte ein Schalldämpfer und zur Tarnung Sonnenbrille und Perücke verwendet werden. Nach dem Mord sollte der Täter ins Ausland flüchten. Schlussendlich habe jedoch Uwe Behrendt den Auftrag ausgeführt.

Als wenige Tage danach auch Franziska Birkmann in einer Vernehmung auf Behrendt angesprochen wurde, entgegnete sie, sie könne diesen nicht belasten, ohne auch Hoffmann zu belasten. Als der vernehmende Beamte sagte, er könne sich vorstellen, dass Hoffmann ihr gegenüber die Tatbeteiligung eingeräumt hat, nickte sie, weigerte sich aber eine entsprechende Aussage zu Protokoll zu geben, weil sie nicht als Kronzeugin gegen ihren Lebensgefährten auftreten wollte.

Hoffmann und Behrendt waren nun Hauptverdächtige in der Mordsache Lewin/Poeschke, Birkmann wurde Beihilfe vorgeworfen. Doch im Gegensatz zu Hoffmann war Behrendt in den Libanon geflüchtet und konnte weder befragt werden - noch sich verteidigen.

In weiteren Vernehmungen und Aussagen während des Prozesses präsentierte Hoffmann seine Version der Geschichte. In dieser war Uwe Behrendt allein verantwortlich. Allein habe er den Tatentschluss gefasst, die Sonnenbrille von Franziska Birkmann und die gemeinsam benutzte Beretta MP an sich genommen. Dazu habe er alleine einen Schalldämpfer der Art gebaut, die zuvor von Hoffmann und ihm hergestellt worden war. Dann sei er alleine nach Erlangen gelangt, habe Shlomo Lewin und Frida Poeschke ermordet, die Tatwaffe entsorgt und sei dann nach Ermreuth zurückgekehrt - wie er nach Erlangen und wieder zurück kam, wo er die Waffe versteckt haben soll, ist bis heute unklar. Erst dann habe er Hoffmann die Tat gestanden. Dieser habe dann Behrendt zur Flucht, zunächst in die DDR und schließlich in den Libanon verholfen.

Weiterhin gab Hoffmann an, Behrendt habe die Morde begangen, um Hoffmann zu rächen, dem durch das angeblich vom israelischen Geheimdienst fingierte Oktoberfestattentat schwerer Schaden zugefügt worden sei. Lewin wurde demnach umgebracht, weil er Jude und - in einer antisemitischen Logik - damit für das Handeln Israels verantwortlich war.

Dabei war es Hoffmann selbst, der diese antisemitische Verschwörungstheorie ausgedacht und im Oktober 1980 im Libanon einem seiner Gefolgsleute diktiert hatte - Wochen vor dem Mord an Lewin und Poeschke und genau zu der Zeit, in der zwei seiner Männer behaupten, von ihm wegen eines Mordauftrages kontaktiert worden zu sein. In diesem Diktat breitet Hoffmann aus, wie der Mossad das Oktoberfestattentat inszeniert haben soll mit dem Ziel, einerseits Hoffmanns WSG zu diskreditieren und andererseits weiter deutsche Zahlungen an Israel durch die inszenierte Gefahr des Rechtsextremismus zu sichern.

Das Gericht folgte Hoffmann in nahezu sämtlichen Behauptungen. 1986 wurden er und Birkmann in allen die Morde betreffenden Punkten freigesprochen. So endete der erste Prozess in der Bundesrepublik, der einen antisemitischen Mord nach dem Ende des Faschismus zum Gegenstand hatte, ohne dass irgendwer zur Rechenschaft gezogen worden war.

Mit den eingestellten Ermittlungen zum Oktoberfestattentat hat sich ein wichtiger Zugang geschlossen, der auch wesentliche Erkenntnisse zu den Morden in Erlangen hätte liefern können. Insbesondere die Vorgänge im Libanon in den Jahren 1980 und 1981, die auch Gegenstand der Ermittlungen waren, hätten zur Aufklärung beitragen können. Dazu kommt, dass die Todesumstände von Kay-Uwe Bergmann und Uwe Behrendt keineswegs zweifelsfrei geklärt sind.

Die durch den Prozess bestätigte Einzeltäterversion Hoffmanns weist zahlreiche Widersprüche auf. Diese Widersprüche bestehen fort und fordern Politik, Presse, Forschung und Zivilgesellschaft. Wie Walter Benjamin einst schrieb: »Auch die Toten werden vor dem Feind, wenn er siegt, nicht sicher sein.«