Geschliffener Weltschmerz

Nach ihrem Album »Blue« war nichts mehr wie vorher: In »Joni Mitchell - Ein Porträt« schreibt David Yaffe über den Aufstieg und Fall einer außergewöhnlichen Künstlerin

  • Stephan Fischer
  • Lesedauer: 7 Min.

Mitte Dezember hat Bob Dylan die Verlagsrechte an allen seinen Songs an Universal verkauft. Das brachte dem Literaturnobelpreisträger von 2016 geschätzte 300 Millionen US-Dollar ein. Unter den Songs ist auch »Tangled up in Blue« von seinem 1975er-Album »Blood on the Tracks« - für viele Menschen auf Vinyl gepresster Trennungsschmerz. Als er dieses Lied produziert, ist er nicht nur in Traurigkeit verfangen - sondern auch in »Blue«, dem gleichnamigen Song und Album von Joni Mitchell von 1971, der Dylans »Tangled up« gewidmet ist. Das vierte Album der damals nicht einmal 30-jährigen Singer-Songwriterin ist einer von vielen Wendepunkten in ihrem Leben - und einer der Meilensteine in »Joni Mitchell - Ein Porträt« von David Yaffe. »Du hast Dir das Gewicht der Welt aufgebürdet«, hatte Johnny Cash über »Blue« zu ihr gesagt und aus dem Gewicht der Welt hat Mitchell vor allem zwischen 1967 und 1979 musikalisch große Blöcke gerissen, geformt und geschliffen. Sie hat die großen Geheimnisse des Lebens mit einer so entwaffnenden Ehrlichkeit beschrieben, dass es für viele ihrer Hörer danach kein Zurück mehr gab, zum Kitsch, zum Klischee, zur Lüge, »denn Joni Mitchells Songs gehen zu Herzen, zielen ins Mark, auf das, was Leben heißt«, schreibt Yaffe.

Es findet sich alles wieder in dieser Biographie: Die Kindheit in der kanadischen Prärie, die Polioerkrankung und ihre Folgen, die Mitchell unter anderem zu einer Ausnahmeinstrumentalistin macht. Das frühe Erkennen der Künstlerseele, »die Liebe zu den Worten«, die ihr ein Lehrer zeigt. Die ersten musikalischen Schritte als Folksängerin, die zur Adoption gegebene Tochter - die sie als offenes Geheimnis immer wieder auch besingt. Die kreative Explosion der 70er-Jahre und die lange Weile danach bis heute, in der Joni Mitchell nicht mehr so recht in die Zeit passen will und doch ständig neu entdeckt wird. Die Zeit, in der manche Songs erst zu dem werden, was sie sein können und könnten - in vielen Alben und Liedern liegt eine alterslose Weisheit, bei der man sich fragt, woher um Himmelswillen diese bei 25 oder 35 Jahren herrühren kann. Vielleicht, »weil sie gar nicht anders kann als uns allen das Gefühl zu vermitteln, dass wir nicht allein sind«, wie die »New York Times« einmal schrieb.

Yaffe hat für das Buch mehrfach mit Mitchell gesprochen, auch mit vielen musikalischen Weggefährten, meist Männern. Wer eine Beziehung oder auch nur eine Liebelei mit ihr hatte, konnte sich sicher sein, dass diese in einem Song verarbeitet wird. Das ging Graham Nash so, das ging Leonard Cohen so. »Ich bin ein lebendes Bilderbuch«, sagte Mitchell noch 2015 zu Yaffe. Und spätestens mit »Blue« hat sie alles ausgestellt, das gesamte Erwachsenwerden der Liebe. »Nach ›Blue‹ war im Genre Liebeslied nichts mehr wie vorher; über allem schwebte Jonis ausgezehrter Schmerz und ihr klarsichtiges Erkennen. Natürlich wurden im westlichen Kulturkreis weiterhin seichte, krause Liebeslieder geschrieben. Aber nach ›Blue‹ war das immer eine Entscheidungssache«, so Yaffe. Und wie nebenbei hat sie mit »River« auf dem gleichem Album noch das klarste und traurigste Weihnachtslied aller Zeiten gesetzt, das zwar an »Jingle Bells« erinnert, aber sagt, dass man verantwortlich für sein Tun und sein Scheitern und sein Leben ist und trotzdem manchmal einfach einen zugefrorenen Fluss braucht, um auf ihm davonzugleiten.

Es ist nicht Politik, die aus den Texten klingt, und doch fängt Mitchell die Zeit, in der sie lebt, so klar ein wie wenige zuvor. In »Big Yellow Taxi« von 1967 die Umweltzerstörung (»They paved paradise and put up a parking lot«, beginnt der Song und damit ist fast schon alles gesagt), sie hat wahrscheinlich den besten Song über »Woodstock« geschrieben, obwohl oder vielleicht eben weil sie gar nicht dabei gewesen ist. Crosby, Stills und Nash, die ihren harmonischen Sound im Wohnzimmer von Joni Mitchell im kalifornischen Bel Air fanden und kreierten, machten eine Hymne daraus. Aber Mitchells Original ist ein Klagegesang - sie wusste vor allen anderen, dass da das Begräbnis einer ganzen Epoche stattfand.

Nach »Blue« von 1971 folgen weitere Meisterwerke. »For the roses« Ende 1972 - ein makabrer Titel. »To run for the roses« - einem Pferd werden nach dem Rennen Blumen um den Hals gelegt, »doch eines Tages bringt man es irgendwohin und erschießt es« (Mitchell). Ein emotional noch anstrengenderes Album; sie weiß, wer sie ist, wo sie steht und was der Beifall bedeutet, der da jetzt kommt. Yaffe zitiert Don Hackman, der 1972 urteilt: »Mir scheint, dass Joni Mitchell auf ihre ganz eigene Art und Weise eine der begabtesten Komponisten geworden ist, die Nordamerika bisher hervorgebracht hat. Dass sie beschlossen hat, ihre Kunst in kleinen Formen und persönlichen Empfindungen auszudrücken, mindert weder ihren Einfluss noch ihre Bedeutsamkeit.« Mit »Court and Spark« von 1975 steht sie schon »mit einem Fuß in den Siebzigern und mit anderen in zeitlosen Gefilden« - musikalisch werden die Alben immer ausgefeilter, die besten Studiomusiker dieser Zeit, vor allem aus dem Jazzbereich, arbeiten mit ihr zusammen.

»Hejra« von 1976 fängt schon den Verlust selbst ein, der da ist und der da kommt und der der Kunst die Tiefe gibt. Auch den ihrer Stimme - nicht nur 60 Zigaretten am Tag seit frühester Jugend fordern ihren Tribut. Die fast dahingehauchten Folksongs früherer Tage waren ein für alle Mal passé, stattdessen ein kokainbefeuerter »Song for Sharon«, zehn Strophen, kein Refrain, keine Bridge - ein ganzes Leben von der Kindheit in Kanada bis ins New York der 70er, ein Album ohne Zentrum, ohne Anfang, ohne Ende - musikalische Verwunder- und Wunderwerke einer auch Verwundeten.

Es kommen zwar noch Alben (es wurde immer mehr Jazz) und Touren, aber der vor allem kommerzielle Erfolg schwindet. Joni Mitchells »Output in den Siebzigern gab, wenn auch unbeabsichtigt, das private und öffentliche Leben des Jahrzehnts wieder. Später sollte sie die Achtziger das verlorene Jahrzehnt nennen. Man würde ihr mitteilen, dass sie kein Spiegel ihrer Zeit mehr sei. Gott sei Dank, dachte sie und schrieb dann: Mit den Achtzigern übereinzustimmen, hätte ›eine moralische und künstlerische Degeneration‹ bedeutet«, so Yaffe. Trotzdem folgt sie dann Trends, statt selbst welche zu setzen und schimpft dabei immer mehr. Erfolg macht süchtig und darauf zu verzichten fiel auch Mitchell schwer - zumal da auch viele Rechnungen zu bezahlen waren. Aber es passt nicht mehr: »Jonis Karriere bewegte sich parallel zur Kultur - zumindest eine Zeit lang« - ihre Hörer hörte sie als Teil eines breiteren Gesprächs, das sie selbst und ihr Leben, aber auch die Gesellschaft betraf. Aber: Verletzlichkeit und Offenheit werden in den 80ern als »total Siebziger« abgelehnt - und damit das, was Joni Mitchell gerade ausmacht.

Und doch gehört der musikalische Schlusspunkt ihr selbst: Als sie 1967 ihr erstes Album veröffentlichte, umfasste ihre Stimme drei Oktaven und der Sound war minimalistisch. Ihre Plattenkarriere will Mitchell mit vollem Orchester beenden: Sie interpretierte ihre Songs um die Jahrtausendwende neu. Als sie »Both Sides, Now«, den Song von 1967 darüber, die Wolken und das Leben und die Liebe von beiden Seiten zu erkennen, mit dem London Symphony Orchestra einspielt, verlieren die Musiker die Fassung und weinen. Vielleicht beklagen sie »die verschwundene, mehrere Oktaven umspannende Stimme, dieses makellose und wohlklingende, jetzt aber reduzierte Instrument. Vielleicht weinten die Musiker auch, weil sie zum ersten Mal begriffen, worum es in diesem Song wirklich ging. Joni hatte all diese Jahre gebraucht, bis sie endlich so klang, als hätte sie das Leben von beiden Seiten kennengelernt«, schreibt Yaffe. Ende März 2015 erleidet Joni Mitchell einen Schlaganfall. Seitdem hat sie sich fast vollständig aus der Öffentlichkeit zurückgezogen.

Thomas Steinfelds Nachwort ist zuzustimmen, wenn er Mitchells Musik vor allem als eine beschreibt, die für Erwachsene ist - Menschen die etwas geworden sind, und nicht ersehnen oder erschwärmen, jemand anderes werden wollen. Die das Leben von beiden Seiten sehen, egal wie alt sie sind.

David Yaffe: Joni Mitchell - Ein Porträt. A. d. Engl. v. Michael Kellner. Matthes & Seitz. 583 S., geb., 28 €.

Abonniere das »nd«
Linkssein ist kompliziert.
Wir behalten den Überblick!

Mit unserem Digital-Aktionsabo kannst Du alle Ausgaben von »nd« digital (nd.App oder nd.Epaper) für wenig Geld zu Hause oder unterwegs lesen.
Jetzt abonnieren!

Linken, unabhängigen Journalismus stärken!

Mehr und mehr Menschen lesen digital und sehr gern kostenfrei. Wir stehen mit unserem freiwilligen Bezahlmodell dafür ein, dass uns auch diejenigen lesen können, deren Einkommen für ein Abonnement nicht ausreicht. Damit wir weiterhin Journalismus mit dem Anspruch machen können, marginalisierte Stimmen zu Wort kommen zu lassen, Themen zu recherchieren, die in den großen bürgerlichen Medien nicht vor- oder zu kurz kommen, und aktuelle Themen aus linker Perspektive zu beleuchten, brauchen wir eure Unterstützung.

Hilf mit bei einer solidarischen Finanzierung und unterstütze das »nd« mit einem Beitrag deiner Wahl.

Unterstützen über:
  • PayPal