Ich war mit der Kamera ganz nah dran

Der Fotograf Thomas Billhardt reiste 1970 zwei Monate durch Chile - ein Gespräch über eine unvergessliche Tour

  • Heidi Diehl
  • Lesedauer: 6 Min.
Thomas Billhardt (l.) mit Luis Corvalan (M.) 1971 bei der Eröffnung seiner Fotoausstellung »Mit den Augen des Freundes« in Santiago de Chile
Thomas Billhardt (l.) mit Luis Corvalan (M.) 1971 bei der Eröffnung seiner Fotoausstellung »Mit den Augen des Freundes« in Santiago de Chile

Herr Billhardt, im kommenden Jahr wollen Sie mit Leserinnen und Lesern des »nd« nach Chile reisen. Warum?

Ich war schon Anfang der 70er Jahre dort. Es war eine unglaublich interessante Reise, die sich tief in mein Gedächtnis eingeprägt hat.

Erzählen Sie!

Ende der 60er zeichnete sich in Chile eine Umbruchsituation ab. Ich wollte mit eigenen Augen sehen, was sich in dem Land tut, und habe mich um eine Reportagereise dorthin bemüht.

Was sicher nicht ganz einfach war.

Stimmt! Letztlich aber klappte es - ich wurde 1970 offiziell als Fotograf zur Amtseinführung von Präsident Salvador Allende geschickt. 14 Tage Zeit gab man mir für die Tour.

Wie war das an dem Tag, als Allende vereidigt wurde?

Ich kam am Tag zuvor an und wurde von einem Fotografen der Zeitung der kommunistischen Partei, »El Siglo«, empfangen. Er brachte mich am nächsten Morgen in die Moneda, den Präsidentenpalast in der Hauptstadt Santiago de Chile. Gespannt stand ich mit vielen anderen in dem großen Festsaal und wartete auf Allende. Natürlich versuchten alle Fotografen und Kameraleute eine möglichst gute Position zu finden, was gar nicht so einfach war. Als ich meine Kameraposition gerade gefunden hatte, hörte ich auf einmal, wie jemand von hinten meinen Namen rief. Ich war völlig überrascht, denn ich kannte niemanden in Chile.

Wer war es?

Als ich mich umdrehte, entdeckte ich den »Stern«-Fotografen Michael Ruetz, den ich als einen sehr offenen und netten Kollegen in der DDR kennengelernt hatte. Ich gab ihm über andere hinweg die Hand, doch statt sie wieder loszulassen, nutzte er die Gelegenheit und meinen Arm, um sich weiter von hinten nach vorn zu den besseren Plätzen zu ziehen. Plötzlich schob er sich direkt vor mich und nahm mir die Sicht. In dem Moment kam Allende in den Saal.

Und was passierte dann?

Zum Glück war ich größer als Michael Ruetz, sodass ich einigermaßen über ihn hinwegblicken konnte. Ich habe meine Kamera über seinen Kopf gehalten und fotografiert. Und so habe ich auch den historischen Moment festhalten können, als Salvador Allende die Schärpe des Präsidenten von seinem Vorgänger, Eduardo Frei Montalva, übergeben bekam.

Und wie ging es dann weiter?

Ich begleitete den neuen Präsidenten auf seiner anschließenden Triumphfahrt durch die Straßen von Santiago de Chile und fotografierte, was das Zeug hielt. Zum Glück fuhr Allendes Auto sehr langsam, sodass die Fotografen, die ja zu Fuß waren, auch folgen konnten. Ich habe versucht, das Geschehen aus möglichst vielen Blickwinkeln abzulichten. So sind mir auch einige Aufnahmen gelungen, deren historische Besonderheit ich erst viel später zu Hause erkannt habe.

Welche denn zum Beispiel?

Auf einem Foto ist der Wagen mit dem Präsidenten zu sehen und daneben ein eskortierender Reiter in Militäruniform. Zu der Zeit wusste ich natürlich nicht, wer da auf dem Pferd sitzt. Erst lange danach erkannte ich, dass es der spätere (nie offiziell gewählte) Präsident Augusto Pinochet war, der maßgeblich mit verantwortlich für den blutigen Militärputsch am 11. September 1973 war, bei dem Allende gestürzt wurde. Dieses Foto ist ein ebenso tragisches Zeitdokument wie ein weiteres, auf dem zu sehen ist, wie Salvador Allende am Tag seiner Wahl Pinochet die Hand reicht.

Waren Sie ausschließlich zur Amtseinführung Allendes in Chile oder auch darüber hinaus?

Eigentlich sollte ich nach 14 Tagen wieder zurück in die DDR. Aber ich wollte unbedingt das Land kennenlernen. Allerdings hatte ich kein Geld, und die Spesen reichten gerade mal so für ein preiswertes Hotel. Mein chilenischer Betreuer hat mich dann kurzerhand in der Hütte seiner Eltern in einem Elendsviertel von Santiago einquartiert, sodass ich das Geld für das Hotel sparen konnte. Ich bekam von »El Siglo« Gelegenheit, in der Zeitung und in anderen Medien Texte und Fotos zu veröffentlichen und Vorträge zu halten, für die ich bezahlt wurde. Außerdem bekam ich einen Kollegen an die Seite, der in der DDR studiert hatte und mich als Sprach- und Landeskundiger durch Chile begleitete. Insgesamt blieb ich zwei Monate und lernte das Land vom Norden bis zum Süden kennen. Und dabei nebenbei ganz viel über Marketing und Marktwirtschaft.

Inwiefern?

Da wir kaum Geld hatten, versuchten wir unter anderem, Hotels und Fluggesellschaften zu überreden, uns kostenlos zu unterstützen, indem ich ihnen versprach, sie in einem späteren Bildband zu berücksichtigen.

Klappte das?

Bestens. Egal wo wir hinkamen, öffneten sich uns die Türen - in Privathaushalten genau so wie in großen Fabriken. Die Hilfsbereitschaft war überwältigend. Der Bildband »Chile - Hoffnung eines Kontinents« ist 1972 tatsächlich im Verlag Volk und Welt erschienen.

Waren Sie später noch mal in Chile?

Ja, ein Jahr später. Ich brachte eine Fotoausstellung über die Aufbruchstimmung im Land mit, die in der Universität von Santiago de Chile gezeigt wurde. Und ich durfte noch einmal auf eine Fotoreise gehen. Eine dritte Reise, 1973, bei der ich über den Pinochet-Terror berichten wollte, wurde aus Sicherheitsgründen abgesagt.

Und nun wollen Sie mit nd-Leserinnen und -lesern auf Spurensuche in Chile gehen?

Für mich ist es gewissermaßen eine Reise zurück in eine andere Zeit. Ich hoffe, den Mitreisenden ein bisschen das Gefühl von dem großartigen Land mit unglaublich gastfreundlichen Menschen vermitteln zu können, das ich damals empfand. Natürlich hoffe ich, dass wir auch den einen oder anderen von denen treffen, die mir damals so viele Türen geöffnet haben.

So wie Vietnam gehört auch Chile zu den Ländern, denen Sie sich besonders verbunden fühlen.

Richtig. Es gibt eine Unmenge von Fotos aus der Zeit, neben den politischen auch viele stille, private, berührende Zeitdokumente. Zusammen mit der Fotogalerie »Camera Work«, die mein Fotoarchiv verwaltet, planen wir einen neuen Bildband und eine Ausstellung über meine Zeit in Chile. Im Moment sind wir dabei, die Fotos auszuwählen. Obwohl ich diese ja selbst gemacht habe, bin ich oft überrascht, welche symbolische Bedeutung - natürlich auch mit dem heutigen Wissen über den Verlauf der Geschichte - das eine oder andere hat.

Ich danke Ihnen ganz herzlich für das Gespräch und wünsche Ihnen und den nd-Leserreisenden viele schöne Erlebnisse im kommenden Oktober in Chile.

Das Gespräch führte Heidi Diehl

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