Solidarität im Stubenarrest

Seit 75 Jahren gibt es die Volkssolidarität. Die Geburtstagsfeier musste ausfallen

Mit ihrem Eintritt in die Volkssolidarität im Jahr 1960 habe sie ihre Achtung vor den Leistungen der ehrenamtlichen Helfer ausdrücken wollen, »die sich vorbildlich um ältere Menschen kümmerten«, erinnert sich Inge Gerlach. Sie ist Vorsitzende einer Ortsgruppe der Organisation in Potsdam. 1990 sei es dann um die Volkssolidarität als Ganzes gegangen. »Ich wollte nicht, dass dieses von Solidarität geprägte Markenzeichen der DDR untergeht. Das ist uns, den vielen ehren- und hauptamtlichen Akteuren, gemeinsam gelungen«, erklärt Gerlach in einem knapp vierminütigen Imagefilm, der zum 75. Jubiläum der Volkssolidarität gedreht wurde. Aus den fünf neuen Bundesländern und aus Berlin meldete sich dazu je ein Mitarbeiter oder ein Ehrenamtlicher zu Wort.

Am 24. Oktober 1945 wurde in Dresden das Aktionsbündnis »Volkssolidarität gegen Winternot« gegründet. Das 75. Jubiläum sollte auch in Brandenburg ordentlich gefeiert werden. Doch wegen der Corona-Pandemie wurde nichts daraus. Bereits seit 1968 gilt für die Volkssolidarität das Motto »Miteinander - Füreinander«. Doch miteinander zu sein war schwer möglich in den vergangenen Monaten, in denen Abstand gehalten werden musste, um eine Ansteckung mit dem Coronavirus zu vermeiden. Die gemeinsame Wanderung fiel aus und die Spendensammlung musste verschoben werden. Doch füreinander da sein wollte man weiter. In Potsdam packten Senioren Weihnachtsgeschenke für Kinder in einer Einrichtung der Volkssolidarität für betreutes Wohnen. Kurz vor dem Fest wurden die Geschenke abgegeben - zusammen mit dem Bundestagsabgeordneten Norbert Müller und der Landtagsabgeordneten Isabelle Vandré (beide Linke), die auch etwas zur Bescherung beisteuerten.

Die Volkssolidarität
  • Brandenburgs Volkssolidarität zählte mit Stand Ende 2018 – dies ist die letzte greifbare Statistik – 28 976 Mitglieder die sich auf 665 Gruppen verteilten.
  • Es gab 40 ambulante Pflegedienste, sieben Pflegeheime, fünf Tagespflegeeinrichtungen, zehn Anlagen mit 229 Quartieren für betreutes Wohnen, zwei Sozialkaufhäuser, 63 Begegnungsstätten, 16 Kitas und zwei Mehrgenerationenhäuser.
  • Inklusive der Tochtergesellschaften wurden 2196 hauptamtliche Beschäftigte gezählt. Die Zahl der ehrenamtlich Tätigen belief sich auf 3697. af

»Weil die Nähe von Mensch zu Mensch heute ein unvertretbares Risiko darstellt, haben Einsamkeit und Isolation zugenommen«, bedauert Bettina Fortunato, die Verbandsratsvorsitzende der brandenburgischen Volkssolidarität. »Während früher zum Leben des rüstigen Rentners auch das Reisen gehörte, sind wir nun mehr oder weniger zum nationalen Stubenarrest verurteilt.« Die Gesellschaft sei durch die Pandemie tief gespalten. »Eine faire Verteilung der Lasten, die ja bedeuten würde, dass die Wohlhabenden abgeben zugunsten derer, die nichts haben, findet nicht statt.«

Dabei macht Teilen doch Freude. Wo es möglich ist, teilen die Mitglieder der Volkssolidarität. Sie kümmern sich etwa um Menschen, die in Weißrussland unter den Spätfolgen des Reaktorunglücks von Tschernobyl im Jahr 1986 leiden. Oder sie teilen Erlebnisse, und jetzt, da dies nur eingeschränkt möglich ist, die Erinnerung daran. Voll mit Erinnerungen ist ein Geschenk, das Erik Rohrbach seinem Verband in Frankfurt (Oder) zum 75. Geburtstag machte. Mit einem Minibuch erinnert der Herausgeber daran, was im Kreisverband alles auf die Beine gestellt wurde. Aufgeschrieben wurden die Geschichten von Mitstreitern, von denen einige inzwischen verstorben sind. Erzählt wird vom Malzirkel, der Illustrationen zum Buch beisteuerte, von der Wandergruppe, dem Chor, dem Reiseclub, dem Bücherstübchen, dem Pflegedienst, von der Ortsgruppe »Juri Gagarin« und vom Essen auf Rädern. Bei den Rädern, mit denen die Mahlzeiten 1983 ausgeliefert wurden, handelte es sich übrigens nicht um Auto-, sondern um Fahrräder. Die mussten von den fleißigen Helferinnen geschoben werden, weil so viele schwere Beutel am Lenker hingen. All das wird in dem Buch »Miteinander - Füreinander« geschildert.

Ein eindrückliches Beispiel für die Kraft der Solidarität erzählt Hagen Weinberg. Als er 1975 nach Frankfurt (Oder) zog, habe er Fritz Teumer kennengelernt, der sich leidenschaftlich in der Volkssolidarität engagierte. Teumer hatte im Konzentrationslager gesessen und dank der Solidarität von Leidensgenossen überlebt: »Ein Mithäftling - hungrig wie er - teilte mit ihm eine Scheibe Brot«, weiß Weinberg aus Teumers Erzählungen.

Das Vorwort hat die Verbandsratsvorsitzende Bettina Fortunato beigesteuert. Sie schreibt: »Unsere Volkssolidarität war und ist ein Beitrag zur Mitmenschlichkeit und gegenseitigen Unterstützung, wie es ihn weit und breit kein zweites Mal gibt.«

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