Aus dem Verborgenen in die Mitte von Austin

Die Hauptstadt des US-Bundesstaates Texas hat Obdachlose lange kriminalisiert. Um den Umgang mit ihnen wird weiter gestritten

  • Johannes Streeck, Austin
  • Lesedauer: 7 Min.

Unter Brücken und Autobahnunterführungen, an Straßenkreuzungen und auf schmalen Grünstreifen ist in Austin nun sichtbar, was lange Zeit unter Anstrengung unsichtbar gemacht wurde: Armut und massive Wohnungsnot. Wie viele amerikanische Großstädte hat auch die Hauptstadt des Bundesstaates Texas über Jahrzehnte Wohnungslosigkeit kriminalisiert und Betroffene per Gesetz aus dem Stadtbild ferngehalten. Menschen ohne Dach über dem Kopf waren gezwungen, sich in umgebenden Waldstücken zu arrangieren, oder sie schliefen in den steilen Flussbetten, die sich durch die Stadt ziehen. Übernachten im Freien, Passanten nach Kleingeld fragen - bis 2019 waren das hier, wie im Rest von Texas auch, alles noch Straftaten. Im vergangenen Sommer hat der Stadtrat von Austin aber beschlossen, die härtesten dieser Regeln abzuschaffen, darunter auch eine Verordnung, die es sogar unter Strafe stellte, sich in der Innenstadt auf den Boden zu setzen.

Seitdem gehören kleine Ansammlungen von Zelten und improvisierten Hütten zum Stadtbild der Hauptstadt. Wie fast alle amerikanischen Großstädte ist Austin fest in der Hand der Demokratischen Partei und wird seit den 1960er Jahren von konservativen Republikanern als Sündenpfuhl verteufelt.

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Im politischen Schaukampf zwischen den ländlichen, republikanisch geprägten Gegenden und den von Demokraten regierten Großstädten von Texas wurden so die Camps von Wohnungslosen zu einem Politikum. Der republikanische Gouverneur des Staates, Greg Abbott, hat im vergangenen Jahr regelmäßig damit gedroht, sie eigenmächtig durch den Bundesstaat räumen zu lassen. Das Elend auf den Straßen von Austin wurde in den rechten Medien ein weiteres Sinnbild für das Chaos in den demokratisch regierten Großstädten.

Organisationen, die sich für Wohnungslose in Austin einsetzen, haben die Entschärfung der Gesetze wiederum einheitlich begrüßt. Amy Price leitet die Öffentlichkeitsarbeit bei Front Steps, einem örtlichen Träger, der Schlafmöglichkeiten, Beratungen und Anbindungen an medizinische Leistungen koordiniert: »Ich finde, die Stadt Austin hat hier etwas unheimlich Mutiges getan. Dass Menschen das Zelten im öffentlichen Raum erlaubt wurde, ist quasi eine humanitäre Reaktion auf eine Krise und lässt uns sehen, wie viele Menschen in Austin tatsächlich Obdachlosigkeit erleben.« Die Zahl der Betroffenen, mit denen die Stadtregierung arbeitet, ist in ihren Augen ohnehin nicht realistisch, da sie auf oberflächlichen Methoden beruht: In einer Nacht im Jahr gehen Freiwillige durch die Stadt und zählen Menschen, die auf der Straße, unter Brücken und in Autos schlafen. »In Jahren, in denen das Wetter besonders schlecht ist und Leute ohne Obdach alles dafür tun, dem Sturm zu entkommen, werden sie nicht von den Freiwilligen gesehen«, sagt Price. »Diese punktuellen Zählungen werden benutzt, um die Zahl von Obdachlosen zu erfassen, obwohl sie nie als ein alleiniges Mittel gedacht waren.«

Während die Stadtregierung im Januar 2020 also auf 2506 Menschen ohne einen festen Wohnsitz gekommen ist, rechnen Front Steps und andere Nichtregierungsorganisationen in Austin mit mindestens 8000 Menschen, die akut von Obdachlosigkeit betroffen sind.

Die Wohnungsnot in Austin ist kein Zufall, denn im letzten Jahrzehnt ist die Bevölkerung um ein Drittel gewachsen. Mehrere große Universitäten ziehen gut qualifizierte Bewerber und Bewerberinnen aus der ganzen Welt an, Absolventinnen und Absolventen der Universität wiederum bilden einen Talentpool für die großen Tech-Firmen, die sich in und um Austin niedergelassen haben. Der Computerhersteller Dell ist im nahen Round Rock zu Hause, Apple, Google und Facebook unterhalten in Austin große Büros, und Tesla hat im Juli den Bau einer Fabrik für den neuen Pick-up Truck der Firma bekanntgegeben - keine zehn Minuten Autofahrt von der 2012 fertiggestellten Formel-1-Rennstrecke entfernt. Auch wegen des angenehmen Klimas und des breiten Angebots an Kulturveranstaltungen ist die Nachfrage nach Wohnraum größer als das Angebot.

»Wer eine kleine Wohnung oder ein Häuschen besitzt, das sich früher zum Beispiel an einen Rentner mit begrenzten Mitteln vermieten ließ, der kann jetzt während der großen Festivals an einem Wochenende so viel verdienen wie früher über ein ganzes Jahr«, bringt Amy Price von Front Steps die Situation auf den Punkt. Laut der Immobiliensuchmaschine Zillow sind die Mietpreise in Austin seit 2010 um sagenhafte 92 Prozent gestiegen. Der gesetzliche Mindestlohn in Texas beträgt umgerechnet noch nicht einmal sechs Euro die Stunde, eine Einzimmerwohnung kostet durchschnittlich über 800 Euro pro Monat. Für die meisten Angestellten der Dienstleistungsbranche ist Wohnraum in Austin jetzt schon unerschwinglich.

»Menschen, deren Familien seit mehreren Generationen hier sind, können es sich nicht mehr leisten, hier zu leben, und das verändert den Charakter und die Kultur der Stadt«, sagt Matthew Mollica, Leiter von Echo, der Ending Community Homelessness Coalition.

Echo ist beispielhaft für das halbformelle Netzwerk aus öffentlichen und privaten Organisationen, das sich in Austin um Wohnungslose kümmert: eine Nichtregierungsorganisation, die sich für sozialen Wohnraum einsetzt, und zugleich damit beauftragt ist, die für Obdachlose vorgesehenen Gelder der Bundesregierung zu verteilen. Diese fallen nach Einschätzung von Mollica viel zu spärlich aus: »Was die Bundesregierung anbelangt, hat es in den letzten drei bis vier Jahrzehnten eine massive Reduzierung von Geldern gegeben. Was wirklich fehlt, ist eine Unterstützung auf föderaler Ebene für Personen, die Obdachlosigkeit erleben, sowie für diejenigen, die gegen sie kämpfen.«

Dort, wo die Bundesregierung seit Jahren gezielt Gelder streicht, greifen Städte und Gemeinden ein, so gut sie können. Die Stadt Austin stellt siebenmal so viel Geld für das Problem zur Verfügung wie die Bundesregierung und bemüht sich um eine gute Zusammenarbeit mit den Nichtregierungsorganisationen. Strategien, die das Problem bewältigen können, gibt es Mollica zufolge genug: »Die fehlenden Gelder machen es uns unmöglich, Programme auszubauen, von denen wir wissen, dass sie erfolgreich gegen Obdachlosigkeit sind.« Der Journalist Gus Bova schreibt über Politik und Wohnungslosigkeit für den »Texas Observer« und bestätigt diesen Umstand: »Es gibt sicherlich genug, was man am Umgang der Stadt Austin mit dem Thema Wohnungslosigkeit kritisieren kann; aber was eigentlich es braucht, ist eine einheitliche Strategie auf der städtischen, bundesstaatlichen und vor allem föderalen Ebene.«

Casa Marianella ist eine weitere Organisation im Netzwerk, deren Fokus vor allem auf der Hilfe für wohnungslosen Migranten und Migrantinnen liegt. Ursprünglich bestand die Organisation aus einem einzelnen Haus für Menschen, die vor dem Bürgerkrieg in El Salvador nach Austin geflohen waren. Heute verfügt sie über mehrere benachbarte Einfamilienhäuser in einer ruhigen, ehemals mexikanisch geprägten Wohngegend von Austin, die in den vergangenen Jahren an Ansehen gewonnen hat und dementsprechend Begehrlichkeiten geweckt hat. In einem grünen Vorgarten beschreibt Kayla Savage, Sachbearbeiterin bei Casa Marianella, die erschwerten Bedingungen: »Hier in der Straße werden mittlerweile Häuser für 1,5 Millionen US-Dollar verkauft.« Die kleinen, gemütlichen Häuser sollen Bewohnern und Bewohnerinnen als Übergangsort auf dem Weg zu einer festen Wohnung dienen, aber das gestaltet sich immer schwieriger, sagt Savage: »Viele der Sozialwohnungen in der Stadt wurden in den letzten Jahren abgerissen, um Platz für Luxusapartments zu machen.«

Über allem liegt natürlich auch in Austin der Schatten der Pandemie. Während Tech-Firmen im Homeoffice arbeiten, ist die Eventbranche der Stadt vorläufig stillgelegt: »Austin ist sehr von der Gastronomie und Hotelbranche abhängig«, erklärt der Leiter von Echo, Matthew Mollica. »In unserer Prognose rechnen wir mit bis zu 53 000 Haushalten, die bald irgendeine Art von Unterstützung brauchen werden.« Das von der Bundesregierung verhängte Moratorium gegen Räumungen wegen Mietschulden wurde zwar mit dem Corona-Hilfspaket um einen Monat bis Ende Januar 2021 verlängert. Dazu, was passiert, wenn am 1. Februar plötzlich Tausende Haushalte auf der Straße stehen, kann sich in Austin niemand genau äußern. Denn die Lösung hierfür liegt in der amerikanischen Hauptstadt Washington. »Wir werden Massen von Menschen sehen, die obdachlos werden, wenn wir ihnen nicht mir ihrer Miete helfen«, bringt es Mollica trocken auf den Punkt.

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