Totenstille oder Tumult

Urlaub machten Deutsche 2020 zumeist im Inland.

  • Carsten Heinke
  • Lesedauer: 6 Min.

Ein paar Deutsche reden übers Reisen. Der erste prahlt mit seinem Roadtrip durch die USA, die zweite schwärmt von Australien. Verschämt erklärt die dritte: »Wir waren nur im Harz.« Unterhaltungen in dieser Art hat man früher oft erlebt. Die letzten davon dürften spätestens am Anfang dieses Jahres stattgefunden haben. Dann plötzlich war das Virus da. Unter vielem anderen brachte es das Reisen zum Erliegen. Alles war auf einmal anders. Und Deutschlandurlaub wurde attraktiv wie nie zuvor - trotz Maske im Hotel oder Warten vor dem Restaurant.

Tobias Woitendorf, Geschäftsführer des Tourismusverbandes Mecklenburg-Vorpommern, schätzt dort den Anteil »neuer« Urlauber in diesem Jahr auf 15 bis 20 Prozent. »Das ist jedoch kein Corona-Phänomen«, sagt er, denn sie hätten die meisten doch schon vor Beginn der Pandemie gebucht.

Trotz der vergleichsweise hohen Zahl von fünf Millionen Gästen, die 2020 in MV übernachteten, blieb am Ende eine wirtschaftliche Einbuße, die für viele Unternehmen das Aus bedeuten könnte.

Da man in Meck-Pomm von Ende März bis Ende August Tagesgäste aus anderen Bundesländern gar nicht erst einreisen ließ, tummelten sich an den Stränden, in den Orten sowie auf Rad- und Wanderwegen neben Übernachtungsgästen nur einheimische Ausflügler und Urlauber. Zu Spitzenzeiten wie zu Ferienbeginn oder an sonnigen Wochenenden während der Schulferien kam es hier und da zu überfüllten Parkplätzen und Strandabschnitten. Shuttle-Busse sorgten etwa in Boltenhagen für Ausgleich.

Gemeinsame Verantwortung

Urlaubsregionen, die sich nach dem Lockdown mit offenbar unregulierbaren Anstürmen von Tagesgästen arrangieren mussten, hatten es dagegen deutlich schwerer, so zum Beispiel das voralpine Zwei-Seen-Land an der B 11, 70 Kilometer von München. Die idyllische Gegend rund um Walchensee und Kochelsee wurde an vielen Sommertagen regelrecht von Blechlawinen überrollt. Kilometerlange Staus und Parkchaos, wildes Campen und jede Menge Müll - selbst an Ufern oder Wanderwegen - frustrierten Einwohner wie Urlauber und schädigten Natur und Landschaft.

Daniel Weickel, Tourismusleiter im Zwei-Seen-Land, will das nicht länger hinnehmen. Was der junge Tourismus-Fachmann für den Walchensee plant, könnte sich an dem Münchner Verein »Deine Isar e. V.« orientieren. Der setzt sich seit fast zehn Jahren mit zahlreichen Aktionen für saubere Flussufer in der bayerischen Landeshauptstadt ein. Begeistert beschreibt Weickel das Projekt: »Der jährliche Kinospot und die Plakataktionen sind Kult. Die witzige, originell verpackte Botschaft trifft den Nerv der Leute. So wächst die Bereitschaft, selbst aktiv zu werden. Bei jedem freiwilligen Aufräumeinsatz kommen mehr, um mitzumachen.«

Ganz im Süden ist noch Platz

Die Auswirkungen der Corona-Krise auf den Tourismus sind auch in Baden-Württemberg dramatisch. Bis Ende September waren die Übernachtungen um 43 Prozent zurückgegangen. »Grund dafür ist vor allem das Fehlen von Geschäftsreisenden und internationalen Gästen. Die tatsächlich gestiegene Nachfrage nach Urlaub im eigenen Land ist erfreulich, konnte aber die Ausfälle nicht kompensieren«, sagt Martin Knauer von der Tourismus Marketing GmbH Baden-Württemberg. »Profitiert haben klassische Urlaubs-Destinationen, vor allem im ländlichen Raum«, so Knauer. Überdurchschnittlich habe sich die Bodenseeregion entwickelt. Dort lag der Zuwachs allein im September bei fast 17 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat.

Um überfüllte Wanderwege im Nordschwarzwald zu entlasten und Gäste auf weniger bekannte und einsamere und zugleich genügende breite Pfade zu locken, bietet die Hermann-Hesse-Stadt Calw seit diesem Sommer unter dem Stichwort »Freigang« eine Auswahl wunderschöner, coronatauglicher Wanderrouten an, die auch für Familien mit Kinderwagen geeignet sind.

Leipzig-Trip mit Landpartie

Ein weiterer Weg, Besucherströme umzuleiten und damit unter anderem mehr Abstand für den Einzelnen zu gewinnen, wird in touristisch stark frequentierten Städten schon seit Längerem praktiziert. Er führt übers Umland oder besser gesagt, ins Umland hinein - und zwar auf Rad- und Wanderwegen, die sowohl geografisch als auch thematisch mit der Stadt korrespondieren.

»Beim Blick über den Tellerrand entstehen so mitunter touristische Partnerschaften mit bekannten und weniger bekannten Städten der Umgebung, von denen beide Seiten profitieren. Leipzig kooperiert inzwischen mit rund 50 Kommunen«, sagt Andreas Schmidt von der Leipzig Tourismus und Marketing GmbH. So entdecken beispielsweise immer mehr Besucher der sächsischen Messemetropole auch das mitteldeutsche »Neuseenland«, wo aus leeren Braunkohletagebauen wunderbare Wasserlandschaften für Naherholung und Naturschutz entstanden sind. Schnell und bequem kommt man ebenso per S-Bahn in schön gelegene Orte wie das nordsächsische Eilenburg.

Wahlweise auf dem Lutherweg zu Fuß oder per Fahrrad auf dem Mulderadweg bietet sich von dort aus eine Tour in die Dübener Heide an. Dass die Verknüpfung von Citytrip und Aktivtourismus funktioniert, zeigt tendenziell das Leipziger Ergebnis. »Der Aufenthalt wird länger«, so Schmidt.

Vom Rennsteig in die Rhön

Über den verstärkten Trend von der Kurz- zur Urlaubsreise in Deutschland freute man sich auch in Thüringen. »Vor allem in Ferienwohnungen und -häusern sowie Pensionen blieben viele Gäste bis zu zehn Tagen«, berichtet Mandy Neumann von der Thüringer Tourismus GmbH. Im malerischen Dermbach lag im August sogar der durchschnittliche Aufenthalt bei über einer Woche. Die Thüringer Rhön, zu der der Ort gehört, hatte im Juli und August fast anderthalbmal so viel Gäste wie in den Vorjahresmonaten. Spitzenreiter waren Landhotels und Ferienwohnungen, Reiterhöfe oder luxuriöse Sternenwagen (kleine Luxusdomizile auf Rädern und mit Glasdach).

»Die wenigsten Verluste und teilweise sogar mehr Zulauf als im letzten Jahr hatten bei den Übernachtungen besonders naturnahe und kleinere Orte im Thüringer Wald sowie an den Saalestauseen wie etwa Floh-Seligenthal, Masserberg und Ziegenrück, aber auch die Städte Schmalkalden und Ilmenau«, erklärt Neumann. Das Naturerlebnis beginne dort wie fast überall in Thüringen beinahe direkt vor der Tür - ganz gleich, ob beim Wandern, Radeln oder einfach nur beim Draußensein.

Mit der Kampagne »Tür an Tür mit Thüringen« wirbt der Freistaat seit Juli bundesweit um Gäste. Im Fokus stehen kurze Wege zu überraschenden Reisezielen in allen zwölf Regionen des Landes - von der Rhön über das Thüringer Becken bis zum Altenburger Land. Neben Urlaubsgästen hat man damit vor allem viele Tagesausflügler erreicht.

Zu den beliebtesten Zielen zählten der Baumkronenpfad im Nationalpark Hainich, das Kyffhäuserdenkmal und die Leuchtenburg bei Kahla mit ihren faszinierenden »Porzellanwelten«. Die moderne, spannend inszenierte Ausstellung in der mittelalterlichen Burg, die vor allem jüngere Besucher anspricht, verzeichnete trotz Corona-Management allein im Juli ein Plus von 30 Prozent gegenüber dem Vorjahresmonat.

Schlange stehen per App

Außer Museen mussten in diesem Jahr auch Zoos und Freizeitparks mit strengen Besucherregeln arbeiten. Neben Einlassbegrenzung und Hygiene ging es dabei vor allem um genügend Abstand. Eine Distance Radar App hilft im Europa-Park in Rust (Baden-Württemberg) bei Ticketkauf und Planung und animiert spielerisch, die Abstandsregeln einzuhalten - insbesondere, indem man sich mit ihr virtuell »in eine Warteschlange stellen« kann - mit Zeitgewinn und ohne Drängelei. Ebenso touristisch nutzbar ist die App Digital-Queue des Tübinger Softwareunternehmens HB Technologies AG.

www.entdecke-deutschland.de

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